Wege aus der Dunkelheit

  • Im Thread „Leben und Vorsorge am Existenzminimum“ hat Ben folgendes Zitat gemacht:

    „Ein Verwandter, von der Frau verlassen, kurze Zeit später den Job verloren, Zack Depression da. Kaum Energie für Jobsuche, dadurch nur Absagen bekommen. Er bekam immer mehr vermittelt er sei ein Versager. Vom Arbeitsamt, vom Freundeskreis der immer kleiner wurde und teilweise auch von der eigenen Verwandtschaft. Das klassische Unverständnis über psychische Krankheiten kam zutage, ihm wurde geraten sich einfach "zusammen zu reißen". Das ist für Menschen in so einer Situation aber nicht machbar.“

    Dieses Zitat hat mich tief betroffen gemacht. Nein, das stimmt so nicht. Ich habe mich in diesem Zitat selbst wiedergesehen.

    Ich wollte in der ersten Fassung des Textes gleich in medias res gehen, aber ich habe mich dann doch dazu entschlossen, etwas weiter auszuholen.


    Ende der 1990er erkrankte meine Mutter an einer besonders aggressiven Form des Brustkrebses. Die ersten Tumore wurden in den Achsellymphdrüsen identifiziert, dadurch war von vornherein die Prognose eher düster und bereits die ersten Therapieansätze, auch für damalige Verhältnisse, entsprechend aggressiv. Gut anderthalb Jahre nach der ersten Diagnose der bösartigen Tumore, gutartige wurden bereits identifiziert, da war sie noch in ihren 20ern, verstarb meine Mutter, nachdem wir mit ihr zusammen gemeinsam gegen den Krebs ankämpften.


    Ich war in dieser Zeit gerade am Anfang meines Studiums und war daher doch ein Stück weit froh, dass ich heimatnah studieren konnte. Für meinen Studiengang galt zu dieser Zeit, dass man mit der „Kinderlandverschickung für Fortgeschrittene“ (Studienanfänger) mehr oder weniger nach Gutdünken über Deutschland verteilt wurde. Die älteren in diesem Forum werden die ZVS als Einrichtung mindestens dem Namen nach kennen, wenn sie nicht sogar selber ein „Opfer“ dieser ZVS wurden.

    Ich war mitten in meinem Grundstudium, als sich schließlich herausstellte, dass Metastasten bereits Metastasen im Gehirn meiner Mutter angekommen waren. Die betreuende Ärztin sagte zu meiner Schwester und mir, dass sie nicht zynisch oder pietätlos erscheinen wolle, aber sie hoffe, für unsere Mutter und für uns, dass unsere Mutter nun im Endstadium der Krankheit angekommen sei und es nur noch einen Monat dauern würde. Alles darüber hinaus, würde für alle Beteiligten eine zu große Belastung. Die Ärztin sollte richtig liegen. Ziemlich genau einen Monat nach der Feststellung der Metastasen im Gehirn verstarb sie schließlich. Zu den Umständen an ihrem Todestag werde ich nicht weiter darauf eingehen, aber für meine Tante, die uns in dieser Zeit ebenfalls begleitete, fand die eine oder andere Begebenheit dann doch etwas spooky. Und mir kommt heute noch immer die Gänsehaut, wenn ich davon erzähle oder auch nur daran denke.


    Ich hatte in dieser Zeit ein sechswöchiges Pflichtpraktikum zu absolvieren und es war mit einigen Mühen verbunden, also zog ich dieses Praktikum trotz allem durch. Auch wenn jeder dafür volles Verständnis hatte. Als es schließlich um den Besuch der Bestattung/Trauerfeier ging, ist einer der Dozenten aus allen Wolken gefallen, als ich ihm die Situation erklärte. Er hatte NICHTS bis dahin mitbekommen, dass da irgendetwas im Raum stehen würde. Und es war für ihn absolut selbstverständlich, dass ich an de Bestattung meiner Mutter teilnehmen könnte und ich keine Nachteile im Praktikum dadurch haben würde. Etliche in meiner Verwandtschaft kamen darauf überhaupt nicht klar, dass ich sowohl das Praktikum so knallhart durchzog wie auch das weitere Studium. Das wollte überhaupt nicht in ihre Köpfe und führte letztlich auch zum Bruch mit einem wesentlichen Teil der Verwandtschaft. Bis heute. Zwischenzeitlich war auch das Verhältnis zwischen meinem Vater, meiner Schwester und mir, vorsichtig gesagt, unterkühlt. Mein Vater und meine Schwester hatten sich sechs Wochen lang krankschreiben lassen. Jahre später sagten sie mir, dass sie das nicht nochmal machen würden und meine Herangehensweise im Nachgang betrachtet doch wohl die Richtige Art war.


    Doch gibt es in der Trauerarbeit einen „richtigen“ Weg? Nein! Jeder Mensch trauert anders. Für mich war es der Weg, mit meiner täglichen Routine weiterzumachen. Für mein Vater war es als Berufskraftfahrer sicherlich der richtige Weg, wenigstens die erste Zeit sich krankschreiben zu lassen. Und meine Schwester verarbeitete diese Zeit schließlich damit, dass sie von einer Party zur nächsten zog. Jeder muss für sich einen Weg finden, mit dieser Situation umzugehen. Was sich gut und richtig für den Trauernden anfühlt ist nicht falsch! Falsch wäre es, sich von Dritten ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen, wenn man nicht so trauert, wie sie es für angemessen halten. Jeder darf gerne Tipps oder Ratschläge geben. Aber Hilfe aufdrängen, ist falsch. Das wäre sogar kontraproduktiv und könnte dazu führen, dass Menschen sich erst recht in eine Selbstisolation begeben. Und damit erst recht in eine Depression abrutschen.


    Mein Studium zog ich schließlich trotz aller Schwierigkeiten, die in den nächsten Jahren noch folgten, erfolgreich durch. Die Jahre 2005/2006 waren schließlich für mich wieder eine besonders schwere Zeit. In vielerlei Hinsicht.

    Beruflich hatte ich ein Jahr zuvor ein Projekt geschmissen, bei dem ich viel zu lange auf der Stelle trat und von allen Seiten Druck bekam, endlich zu liefern. Anfang des Jahres verstarb überraschend ein sehr geschätzter Arbeitskollege, der mir bei meinem Projekt mit vielen Ideen und Basteleien von Gerätschaften für meine Experimente half. Ohne ihn hätte ich das Projekt wahrscheinlich schon sehr viel früher als „undurchführbar“ an die Wand geklatscht. Woran starb er? Eigentlich eine völlig banale Geschichte. Ein Blutgefäß von/zum Herzen war aufgrund einer verschleppten Erkältung geschwächt und mitten in der Nacht gerissen. Man kann sich denken, wie hoch da die Überlebenschancen selbst in Deutschland sind.

    Zu meinem Leidwesen hatte mein Vater einige Monate später einen schweren Arbeitsunfall. Ein LKW-Fahrer rammte bei einem Überholvorgang seinen LKW. Die Kollision war so heftig, dass die Trümmer sehr großzügig über die dreispurige Autobahn verteilt wurde. Einschließlich des Fahrerhauses, in dem mein Vater, durch den Sicherheitsgurt gesichert, quer über die Autobahn geschleudert wurde.

    Das alles führte schließlich dazu, dass ich das bestehende Stipendium auslaufen ließ, wohl wissend, dass ich dann lediglich ALG II bekommen würde. Das war mir zu dem Zeitpunkt vollkommen egal. Ich wollte einfach nur noch raus aus dieser Situation, die alle meine Kraft und Energie kostete und ich mich im Freien Fall zu befinden schien. Mir war zu dem Zeitpunkt voll bewusst, dass Ende meiner wissenschaftlichen Karriere, zumindest an der Universität, bedeuten würde. Aber ich dachte mir, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.

    aus Niedersachsen, DE gesendet...


    "Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit." Marie von Ebner-Eschenbach


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    "Dein Rad kann viel mehr, als du ihm zutraust. Das findet schon seinen Weg. Einfach laufen lassen, wenig bremsen, den Flow finden." (ein Freund zu einem Silk Road Mountain Race Teilnehmer)

  • Anfang 2006 trat ich eine neue Stelle an. In dem Jahr sollte ich 30 Jahre alt werden. Aus einer Laune heraus rief ich eines Abends bei meiner damaligen Lebensgefährtin an, um sie zu fragen, wie wir es nun mit meinem Geburtstag halten wollten. Es ist dann schon ein schwerer Schlag ins Gesicht, wenn sie einem dann ziemlich unverblümt eröffnet, dass daraus nichts werden wird, weil sie sich von mir trennen will, nur bislang noch keinen passenden Zeitpunkt dafür gefunden habe, das Gespräch mit mir zu suchen.

    Tja, keine zwei Wochen später eröffnete mir meine damalige Chefin, dass sie mich kündigen wolle. Die Chemie stimme nicht. Nun gut, es war der letzte Tag der Probezeit, da wäre sie theoretisch sehr gut mit durchgekommen. Dumm nur, dass der Personaler das überhaupt nicht so sah und knallhart eine dreimonatige Kündigungsfrist durchdrückte, weil er mit den doch sehr fadenscheinigen und an den Haaren herbeigezogenen Gründen ihrerseits nicht einverstanden war. Also, wenn Blicke töten könnten, wäre er in diesem Moment tausend Tode durch sie gestorben.

    Innerhalb dieser Zeit musste ich dann nicht nur meinen restlichen Jahresurlaub noch verballern, sondern wurde auch noch von meinem damaligen Hausarzt für einige Wochen aus dem Verkehr gezogen. Diagnose „Chronisches Erschöpfungssyndrom“. Die Zwangspause hat mir wahrscheinlich nicht so richtig gutgetan. Ich hatte nun eine ärztlich verordnete Auszeit, in der ich zur Ruhe kommen konnte und mich wieder erden konnte. Aber es stand ja auch immer noch das Damoklesschwert der bevorstehenden Arbeitslosigkeit im Raum. Einen ALG-I-Anspruch hatte ich nicht und so lief es wieder auf ALG-II hinaus. Ich schrieb in den Monaten meiner ärztlichen Freistellung keine Ahnung wie viele Bewerbungen. Doch wenn ich überhaupt eine Rückmeldung bekam, so erhielt ich unterm Strich doch nur eine Absage. Selbst ein vielversprechendes Bewerbungsgespräch bei München verlief im Sande.


    Wie in dem Zitat von Ben war es also auch hier: Job verloren, von Frau/Lebensgefährtin und Kind verlassen. Nur mit einem kleinen, aber sehr feinen Unterschied: Ich bin nicht IN die Depression gerutscht, sondern war noch gar nicht aus der depressiven Episode, die bestimmt bereits Ende 2004/Anfang 2005 angefangen haben musste, herausgekrochen. Und die beiden Fakten wiederholter Jobverlust sowie Verlust der eigenen Familie forcierten die bereits bestehende depressive Episode. Vom Jobcenter bekam ich den Eindruck vermittelt, ich sei ein Versager. Die mir, mal wieder, zugeteilte Sachbearbeiterin hatte für meine Situation wenig Verständnis und machte auf mich einen selbst sehr überforderten Eindruck. Wie ich Jahre später erfuhr, war sie doch noch eine der besseren Persönlichen Ansprechpartner, die dieses Jobcenter zu bieten hatte.


    Auch von mir wendeten sich Freunde ab. Nein, das stimmt so nicht. Man lebte sich eher auseinander. Ich verkroch mich in meinem Schneckenhaus und schlug die gereichten Hände in den Wind. Ich wollte mich nicht mehr mit Ihnen treffen. Und irgendwann fragten sie verständlicherweise nicht mehr nach, ob man sich treffen wolle. Ich war noch nicht bereit dazu, Hilfe anderer Leute anzunehmen. Den gut gemeinten Rat meiner damals besten Freundin konnte ich erst viele Monate später umsetzen. Erst Richtung zweiter Jahreshälfte 2007 war ich mental dazu in der Lage, mir professionelle Hilfe zu suchen. Ihr könnt euch vorstellen, dass es in Deutschland nicht so wirklich einfach ist, einen Termin bei einem Psychotherapeuten zu bekommen. So war es auch bei mir. Eine telefonische Absage folgte der nächsten. Ich hatte die Hoffnung bereits aufgegeben und wollte mich in meinem Schicksal hingeben. Manchmal ist das Schicksal einem dann aber doch hold. Einige Tage, nachdem ich völlig gefrustet von den Absagen der Psychotherapeuten („Naja, also wir können sie auf die Warteliste setzen, aber vor in einem halben Jahr wird das mit Sicherheit nichts“) die Suche nach einem Psychotherapeuten bereits aufgegeben hatte, rief einer der Psychotherapeuten an, der mir ursprünglich abgesagt hatte. Ein anderer Patient habe abgesagt und dadurch sei kurzfristig ein Termin freigeworden. In der Folge hatte ich dann für zunächst ein Jahr eine monatliche Therapiesitzung beim Therapeuten. Hat es etwas gebracht? Nun, langfristig noch nicht so richtig. Denn aktuell befinde ich mich wieder in einer depressiven Episode. Aber zu dem Zeitpunkt hatte es mir geholfen. Ich fand eine neue Liebe, zog mit ihr nach Hamburg und hatte auch wieder einen neuen Job. Heute ist diese Frau meine Ex-Frau. Aber das steht auf einem anderen Blatt.


    Dass ich wieder in einer depressiven Episode stecke hat sicherlich viele Gründe. Seien es längst noch nicht in ihrer Tiefe aufgearbeiteten Probleme aus der Vergangenheit, die zunächst einer grundsätzlichen Klärung bedürfen. Seien es aktuelle Gründe, zum Beispiel in Form von Mobbing, das alte Wunden von „du bist nicht gut genug“, „du leistest nicht genug“ und derlei Sachen wieder aufgerissen werden. Oder seien es gesundheitliche Probleme in der Familie (Vater, BEVA etc.).


    Ich würde mal grundsätzlich sagen, dass ich eine sehr hohe Resilienz habe und ich vieles mit mir selbst ausmache. Über die Jahre habe ich mir verschiedene Techniken angeeignet, mit so einer Episode umzugehen. Sei es schreiben oder eben auch ein stumpfes „darüber reden“. Aber leider ist es auch heute noch in Deutschland so, dass man von seinem Umfeld zu hören bekomme, dass man sich zusammenreißen solle. Oder die einen für total plemplem in der Birne halten, wenn man ihnen erzählt, dass man eine depressive Episode hat oder einen Psychotherapeuten besucht. Das führt zu der unschönen Situation, dass sich Betroffene tendenziell eher in sich selbst zurückziehen, statt sich anderen Menschen gegenüber zu öffnen. Sicherlich ein Stück weit falsche Scham. Aber zu einem Teil auch im Verhalten des gesellschaftlichen Umfelds begründet. In den letzten Jahren wurde das in Deutschland schon besser. In manchen Berufsfeldern sicherlich auch schon deutlich stärker als in anderen. Aber jeder Person mit irgendeiner Form der psychischen Erkrankung haftet noch immer der Nimbus eines „Unberührbaren“ an.


    Mit diesem Thread möchte ich euch dafür sensibilisieren, dass auch außerhalb von schweren Krisen, Katastrophen und Pandemien Menschen in eine psychische Ausnahmesituation geraten können, aus der sie aus eigener Kraft nur begrenzt herauskommen. Und, dass man bestimmte Situation in Form von „Was wäre, wenn…“ durchaus durchspielen/durchdenken/durchsprechen sollte. Natürlich wird man in der konkreten Lage mit Sicherheit völlig überrascht und überrannt werden. Aber der Moment der natürlichen Schockstarre ist durch die mentale Vorbereitung deutlich kürzer. Man hat für sich selbst oder mit seiner Familie vielleicht sogar schon Techniken eingeübt, die helfen, die psychisch fordernde Situationen zu meistern.


    Vorbereitung auf eine Krise bedeutet für mich eben auch, sich mit den psychologischen Komponenten einer Krise zu befassen. Noch während meiner Schulzeit las ich das Buch „Psychologie des Überlebens: Survival beginnt im Kopf“ aus dem Pietsch-Verlag (ISBN-13: 978-3613500648, im großen Strom gibt es das Buch für unverschämte Preise und dann auch nur gebraucht…). Ich hatte mich seinerzeit mit Rüdiger Nehbergs Werken, SAS Survial etc. befasst und das oben besagte Buch zeigte mir, dass jede Krisensituation immer auch eine psychologische Komponente mit sich trägt.

    aus Niedersachsen, DE gesendet...


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    Dorfleben. Entweder du liebst es oder du liebst es nicht. Es gibt kein Versuchen!


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  • Puh, vielen Dank für die mutigen Einblicke! Ich glaube, irgendwelche Kommentare dazu wären unpassend und vermutlich auch unerwünscht.


    Aber auf jeden Fall ist es wichtig, die seelische oder psychologische Eben nicht zu vergessen - im Alltag wie in Ausnahmesituationen. Das hilft, selbst mit Herausforderungen klarzukommen und auch das Verhalten anderer einzuschätzen. Und vielleicht ist es auch ein Anstoß dazu, sich nicht zu sehr auf Krisenszenarien zu versteifen, sondern nebenher das Leben andere Interessensgebiete und die Beziehung zu anderen Menschen nicht zu vernachlässigen.

  • Danke für deinen Thread UrbanTrapper


    Ich schreibe morgen am PC eine längere Antwort aber vorab Hut ab vor deinem Werdegang und welche Herausforderungen du schon gemeistert hast in deinem Leben.


    Die psychischen Auswirkungen auf Menschen in Krisen sind alles andere als trivial. Sie werden aber sehr oft ausgeblendet, weil psychische Krankheiten als "Schwäche" angesehen werden, obwohl sie so real sind wie ein Tumor.

  • Ich glaube, irgendwelche Kommentare dazu wären unpassend und vermutlich auch unerwünscht.


    Aber auf jeden Fall ist es wichtig, die seelische oder psychologische Eben nicht zu vergessen - im Alltag wie in Ausnahmesituationen. Das hilft, selbst mit Herausforderungen klarzukommen und auch das Verhalten anderer einzuschätzen. Und vielleicht ist es auch ein Anstoß dazu, sich nicht zu sehr auf Krisenszenarien zu versteifen, sondern nebenher das Leben andere Interessensgebiete und die Beziehung zu anderen Menschen nicht zu vernachlässigen.

    Was die Kommentare angeht: passend oder nicht, das lasse ich die Leser entscheiden. Unerwünscht: Definitiv erwünscht! Das war mit einer der Gründe, warum ich so lange auf dem Text offline rumgehühnert habe, damit ich en bloc hier einstellen kann. Dadurch ist zumindest dieser Teil nicht aus dem Kontext gerissen.


    Was die Interessensgebiete angeht, so denke ich, ist ein gesunder Mix aus sportlicher Betätigung, gesellschaftlich/sozialer Betätigung und "eigenbrötlerischer" Freizeitbeschäftigung wichtig. Letzteres, um mit sich selbst im Reinen zu bleiben. Wenn man sich in seiner Freizeit zu sehr auf ein einziges, bestimmtes Feld beschränkt, passiert es gerne mal sehr schnell, dass man quasi in einer Filterblase gefangen ist. Und wenn diese zu klein ist, dann gibt es relativ wenig neuen Input. Führt dann mitunter dazu, dass man erst recht empfänglich für belastende Momente/depressive Episoden wird. Einfach, weil man sich zu sehr selbst begrenzt hat.

    aus Niedersachsen, DE gesendet...


    "Der Klügere gibt nach! Eine traurige Wahrheit, sie begründet die Weltherrschaft der Dummheit." Marie von Ebner-Eschenbach


    Dorfleben. Entweder du liebst es oder du liebst es nicht. Es gibt kein Versuchen!


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  • Bis ich etwa 9 Jahre alt war, war meine Mutter noch "normal". Hatte natürlich keine Erfahrungen, was "normal" in anderen Familien bedeutet.

    Sie hat sich Mühe gegeben. Beim kochen und bei der Hilfe der Hausaufgaben für mich in der Grundschule.

    Vielleicht, oder ziemlich sicher, gab es wesentlich früher schon handfeste, körperliche Auseinandersetzungen zwischen meinen Eltern.

    Mich erschreckt, dass ich mehrere davon noch bildlich in meinem Kopf sehen kann. Wie meine Mutter mit einem Messer auf meinen Vater einsticht. Im Bereich der Schulter und das Messer war nicht sonderlich scharf. Er hat es also ohne grossen Schaden überlebt.

    Danach erinnere ich mich, dass ich wesentlich schlechter mit meiner Mutter ausgekommen bin. Sie war sehr dünnhäutig und aggressiv mir gegenüber. Etwas, das ein Kind nicht verstehen kann, das nichts "schlimmes" gemacht hat. Sie wurde immer unausgeglichener und hat sich in den Alkohol geflüchtet.

    Dumm nur, weil sie die Person war, die z.B. dafür verantwortlich war mich zum Kieferorthopäden zu fahren.

    Ich weiss nicht mehr vor was ich mich mehr gefürchtet habe. Davor mit einer angetrunkenen Mutter im Auto zu fahren oder dem fiesen Kieferorthopäden.

    Irgendwann kam der Tag als ich eines ihrer hochprozentigen-Alk Verstecke gefunden habe....unter der Spüle.


    Einiges an Spülmittel in den Cognac geschüttet. Keine Ahnung, ob sie ihn trotzdem getrunken hat.


    Ich habe damals nur gesehen WER mir mein Leben zur Hölle macht. Nicht WARUM.


    Das habe ich dann so mit 14 oder 15 kapiert. Mein Vater ist das PROBLEM. Keiner kann ihm irgendwas recht machen und dazu ist er extrem versetzend und sexistisch. "Wenn Du nicht mitspielst, dann kaufe ich mir einfach ne vollbusige Blondine". Er kam tatsächlich mit einem Kurschatten daheim an und wollte, dass sich die mit ins Ehebett legt.


    Ich hätte ihm wahrscheinlich mit einem scharfen Messer die **** entfernt, aber meine Mutter war schon so angegriffen/erschöpft, dass sie lieber mehr Alkohol getrunken hat um den Schmerz zu betäuben.


    Ende vom Lied, nachdem meine Mutter, als ich 16 war, schon im Koma im Krankenhaus lag. Muss was mit dem Alk zu tun gehabt haben. (Genauere Infos habe ich nicht bekommen. Waren ja von Vater.)

    Danach waren (etwa 3 Jahre später) die Nieren kaputt und sie musste Dialyse machen, plus Bluthochdruck.

    Sie ( ?) hat sich für eine Bauchfelldialyse entschieden (macht man daheim, privat). Vater wollte nämlich seine Rente im Ausland geniessen und brauchte eine Köchin und Putzfrau.

    Bauchfelldialyse führt aber häufig zu Entzündungen. Hatte sie einige. Aus Hörigkeit........."kannst die Bauchfellalyse auch im Ausland machen". Und weil sie weiter getrunken hat. Benebelt achtet man leider nicht auf alles.

    Schlussendlich ist sie daran gestorben, dass ihre Bauchspeicheldrüse schon in den Zustand der Verwesung übergegangen ist. Obwohl das vorher sehr schmerzhaft sein soll, hat sie das keinem gesagt. "Einfach" aufgegeben.

    Meine Mutter ist tot.


    Denke für sie war es viel schwieriger. Sie hat für sich aber keine Lösung gefunden.


    Ich lebe noch und habe viel daraus gelernt.


    "Schau Dir genau an, von wem Du Dich abhängig machst/bist."


    Wer Dir nicht gut tut, den verbanne aus Deinem Leben (Habe auch deshalb keinen Kontakt mehr zu meinem Vater - viel mehr noch vorgefallen, als ich geschrieben habe, auch mir persönlich gegenüber)


    Man kann aus solchen Erfahrungen lernen und TROTZDEM sich auf Schule und Studium konzentrieren.

    Was braucht man (meiner Meinung nach) dafür?


    Gesunden Realitätssinn? Bin ich ein Produkt meiner Eltern? (Ich hoffentlich nicht, denn ich hätte meinen Vater von den Männern in in blau oder grün abholen lassen). Er war im Ausland ja schliesslich auch wegen häusslicher Gewalt im Knast. SOLCHE Menschen ändern sich kaum. Warum auch nach 20 Jahren?


    ER ist nicht das OPFER - wie meine Mutter. ER ist der Täter.

    Wie geht es mir? ER war lange eine Hauptperson in meinen Träumen. Ist ER der Ursprung meiner Angststörungen/Panik?

    Ich lebe damit.

    Es geht mir seit 4 Jahren (mit Tabletten.....die halbe Dosis, wie vom Arzt verschrieben) auf jeden Fall viel besser. Ganz ohne Tabletten kamen davor völlig "unmotiviert" Panikattacken, mit dem Gefühl keine Luft mehr zu bekommen.

  • Wer seine Kindheit und Jugend in einer "heilen Welt" verbringen durfte und abgesehen davon, dass er erzogen wurde, kaum Probleme hatte, kann sich so etwas wie eure Schilderungen kaum vorstellen.

    Danke, @LadyBelle und UrbanTrapper ,für die offenen Worte!

    Beeindruckend, wie ihr euch selbst aus der Dunkelheit gekämpft habt!

  • Das Leben ist nicht fair und kann einem übel mitspielen. Ich habe mich viele Jahre aus reinem Pflichtbewusstsein durch den Alltag gequält, habe irgendwie funktioniert bis dann die posttraumatische Belastungsstörung letztendlich zum totalen Burnout geführt hat. Die Vorgeschichte spare ich mir jetzt, einigen hier ist sie bekannt. Aus für Arbeit und soziale Kontakte.

    Nach psychologischer Ansicht habe ich nicht mehr reparable Schäden zurück behalten, auch der Aufenthalt in einer psychosomatischen Spezialklinik konnte da nix mehr retten. Ich habe zu lange gewartet.

    Ich befinde mich nach wie vor in Behandlung und habe mich mittlerweile so eingerichtet das ich mich wieder wohl fühle. Dazu gehörte der rigorose Abbruch sämtlicher unnötiger menschlicher Kontakte, tägliche Outdooraufenthalte, ein Hund als Begleiter und Kumpel, meine geliebten Bastelprojekte und meine Familie.

    Es geht mir gut so lange ich nicht in die Stadt und unter Menschen muss, ich mich nicht in einem Wartezimmer eines Arztes befinde oder gezwungen bin den wöchentlichen Einkauf zu tätigen.

    Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom..........;-)

  • Wer seine Kindheit und Jugend in einer "heilen Welt" verbringen durfte und abgesehen davon, dass er erzogen wurde, kaum Probleme hatte, kann sich so etwas wie eure Schilderungen kaum vorstellen.

    Beeindruckend, wie ihr euch selbst aus der Dunkelheit gekämpft habt!

    Danke, Makoto. Ich weiß nicht, wie es bei @LadyBelle aussieht, aber ich für meinen Teil bin wahrscheinlich noch nicht vollständig aus der Dunkelheit raus. Ja, für Außenstehende in meinem Umfeld mag das seltsam klingen und unlogisch erscheinen. Sie können nicht verstehen, wieso jemand der scheinbar "alles erreicht hat im Leben" unter Depressionen oder Burnout leiden kann. Beides nicht miteinander zu verwechseln, auch wenn gerade der Burnout in den letzten zehn, vielleicht fünfzehn Jahren zu einer Modeerkrankung wurde. Es klingt halt "schicker", wenn man sagt, dass man einen Burnout habe, anstatt einer Depression. Gerade in unserer Leistungsgesellschaft haftet jenen, die tatsächlich oder auch nur vermeintlich einen Burnout hatten, der Nimbus des "oh, der/sie ist krank weil er/sie etwas für die Gesellschaft geleistet hat und nun ausgebrannt ist". Zu den Burnoutkranken schaut man auf, weil "die haben ja was geleistet" und auf die Depressiven schaut man herab, weil "die sind ja nur plemplem in der Birne und sollen sich mal nicht so anstellen".


    Es gibt zwischen beiden Krankheitsbildern Schnittstellen und ich müsste in der Literatur wühlen, um sie genauer voneinander zu differenzieren. Die ICD-11 (ab Januar 2022) definiert Burnout präziser als nach der bisher gültigen ICD-10. Hernach ist ein Burnout ausschließlich im beruflichen Kontext zu sehen und geht mit einem Gefühl der Erschöpfung, zunehmender Distanzierung vom eigenen Job und negativer Einstellung zum Job sowie einer reduzierten Leistungsfähigkeit im Job einher. Wie gesagt, Schnittstellen zur Depression sind da, aber Ursachen und Therapieansätze müssen und werden sich unterscheiden. Wobei ich in meiner laienhaften Einschätzung nicht ausschließen möchte, dass jemand mit Burnout in eine klassische Depression abrutscht, wenn der Burnout rechtzeitig angegangen wird und eine klassische Depression auch einen beruflichen Burnout nach sich zieht, wenn sie nicht adäquat therapiert wird.


    Ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass NIEMAND seine Kindheit und Jugend in einer "heilen Welt" verbringen durfte. Es ist ihnen vielleicht nur nicht so bewusst. Sicherlich, jemand der den Tod eines Elternteiles bis zum über den Daumen 21. Lebensjahr erfahren durfte oder Alkohol-/Drogenmissbrauch, Gewalt oder Trennung der Eltern in besagtem Zeitraum erleben musste, wird anders durchs Leben gehen. Entweder wird diese Person selbst sehr früh zerbrechen und selbst zur Flasche oder anderen Drogen greifen oder die Person wird unbewusst Strategien entwickeln, irgendwie mit dieser Situation und der eigenen Lebensgeschichte fertig zu werden.


    @LadyBelle und ich haben unseren Weg gefunden. Keine Frage. Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man den Alkoholmissbrauch zum Beispiel nicht so einfach wegsteckt. Mein Patenonkel sowie eine Tante und ein oder zwei weitere Onkel waren schwer alkoholkrank. Bis hin zu Entzug der Fahrerlaubnis wegen Trunkenheit am Steuer und Androhung des Jobverlustes, wenn man sich nicht endlich einer Entziehungskur unterziehe.

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  • Aber ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man den Alkoholmissbrauch zum Beispiel nicht so einfach wegsteckt.

    Bei mir ging das problemlos. Von ein bis zwei Flaschen Wodka täglich bin ich runter auf 5 Jagertee und 6 Whisky pro Jahr. Das Bedürfnis zu saufen war schlagartig weg nachdem ich aus dem Hamsterrad raus war.

    Nur tote Fische schwimmen mit dem Strom..........;-)

  • Meine Mutter ist 2008 gestorben, aber erst 2018, als dann meine Grossmutter verstorben ist, konnte ich damit anfangen mir einen Weg aus der Dunkelheit zu suchen.


    Mein Vater hatte Oma nämlich jahrelang ebenfalls massiv mit körperlicher Gewalt ("ich schmeiss die Alte die Treppe runter", oder "die braucht mal einen kräftigen Schlag zwischen die Hörner") ihr und mir gegenüber bedroht.


    Mein Leben hat sich irgendwie nur darum gedreht meine Oma zu beschützen und einerseits meinem Vater Kontra zu geben um von ihr abzulenken und andererseits möglichst genau das zu tun, was er anordnet, damit er keinen Grund hat auf sie loszugehen.


    Das hört sich bekloppt an, wenn ich es selbst lese: Streit und unterwürfiges Verhalten fast gleichzeitig.


    Hat sich mein Hirn wahrscheinlich auch gedacht und vor 6 Jahren einen "unmotivierten Panikmodus" entwickelt und einfach nach Lust und Laune (z.B. auf dem Sofa beim fernsehen, beim einkaufen oder auch nachts im Bett) ausgelöst. Es gab in keiner Situation einen Grund Panik zu haben.


    Habe dann eine Gesprächstherapie angefangen mit leichter Hypnose. War nett, aber nicht wirklich hilfreich. Aber man lernt über das Problem zu reden.


    Über ein halbes Jahr später konnte ich dann aber auch mit meinem Arzt drüber reden. Der war sehr verständnisvoll und hat mir zwei Medikamente verschrieben.


    Einen Serotoninwiederaufnahme-Hemmer für jeden Tag und was aus der Gruppe von Benzodiazepin.


    Inzwischen fühle ich mich viel besser. Seit etwa 2 Jahren habe ich keine Panikattacke gehabt. Das ist ein schönes Gefühl.


    Keine Angst mehr vor der Angst haben zu müssen. :)

  • Ich bin mittlerweile der Überzeugung, dass NIEMAND seine Kindheit und Jugend in einer "heilen Welt" verbringen durfte. Es ist ihnen vielleicht nur nicht so bewusst.

    Dem kann ich nur voll zustimmen!


    Ich kann mich daran erinnern wie schwer mich in der Kindheit die Streitereien meiner Eltern als Kind mitgenommen haben.

    Und da ging es wirklich nur um Kleinigkeiten.

    Bei mir hat dafür das Abfackeln des Elternhauses mein späteres Leben komplett verändert, was mir aber erst als Erwachsener bewusst wurde.


    Aus meinem Umfeld kenne ich Fälle wo Kinder Misshandlung und Selbstmord miterlebt haben, oder Morgens neben einem toten Elternteil aufgewacht sind. Alle haben damit bis heute ihr Päckchen zu tragen.


    Meinen aller größten Respekt für eure Offenheit!


    Grüße


    MvO