Im Thread „Leben und Vorsorge am Existenzminimum“ hat Ben folgendes Zitat gemacht:
„Ein Verwandter, von der Frau verlassen, kurze Zeit später den Job verloren, Zack Depression da. Kaum Energie für Jobsuche, dadurch nur Absagen bekommen. Er bekam immer mehr vermittelt er sei ein Versager. Vom Arbeitsamt, vom Freundeskreis der immer kleiner wurde und teilweise auch von der eigenen Verwandtschaft. Das klassische Unverständnis über psychische Krankheiten kam zutage, ihm wurde geraten sich einfach "zusammen zu reißen". Das ist für Menschen in so einer Situation aber nicht machbar.“
Dieses Zitat hat mich tief betroffen gemacht. Nein, das stimmt so nicht. Ich habe mich in diesem Zitat selbst wiedergesehen.
Ich wollte in der ersten Fassung des Textes gleich in medias res gehen, aber ich habe mich dann doch dazu entschlossen, etwas weiter auszuholen.
Ende der 1990er erkrankte meine Mutter an einer besonders aggressiven Form des Brustkrebses. Die ersten Tumore wurden in den Achsellymphdrüsen identifiziert, dadurch war von vornherein die Prognose eher düster und bereits die ersten Therapieansätze, auch für damalige Verhältnisse, entsprechend aggressiv. Gut anderthalb Jahre nach der ersten Diagnose der bösartigen Tumore, gutartige wurden bereits identifiziert, da war sie noch in ihren 20ern, verstarb meine Mutter, nachdem wir mit ihr zusammen gemeinsam gegen den Krebs ankämpften.
Ich war in dieser Zeit gerade am Anfang meines Studiums und war daher doch ein Stück weit froh, dass ich heimatnah studieren konnte. Für meinen Studiengang galt zu dieser Zeit, dass man mit der „Kinderlandverschickung für Fortgeschrittene“ (Studienanfänger) mehr oder weniger nach Gutdünken über Deutschland verteilt wurde. Die älteren in diesem Forum werden die ZVS als Einrichtung mindestens dem Namen nach kennen, wenn sie nicht sogar selber ein „Opfer“ dieser ZVS wurden.
Ich war mitten in meinem Grundstudium, als sich schließlich herausstellte, dass Metastasten bereits Metastasen im Gehirn meiner Mutter angekommen waren. Die betreuende Ärztin sagte zu meiner Schwester und mir, dass sie nicht zynisch oder pietätlos erscheinen wolle, aber sie hoffe, für unsere Mutter und für uns, dass unsere Mutter nun im Endstadium der Krankheit angekommen sei und es nur noch einen Monat dauern würde. Alles darüber hinaus, würde für alle Beteiligten eine zu große Belastung. Die Ärztin sollte richtig liegen. Ziemlich genau einen Monat nach der Feststellung der Metastasen im Gehirn verstarb sie schließlich. Zu den Umständen an ihrem Todestag werde ich nicht weiter darauf eingehen, aber für meine Tante, die uns in dieser Zeit ebenfalls begleitete, fand die eine oder andere Begebenheit dann doch etwas spooky. Und mir kommt heute noch immer die Gänsehaut, wenn ich davon erzähle oder auch nur daran denke.
Ich hatte in dieser Zeit ein sechswöchiges Pflichtpraktikum zu absolvieren und es war mit einigen Mühen verbunden, also zog ich dieses Praktikum trotz allem durch. Auch wenn jeder dafür volles Verständnis hatte. Als es schließlich um den Besuch der Bestattung/Trauerfeier ging, ist einer der Dozenten aus allen Wolken gefallen, als ich ihm die Situation erklärte. Er hatte NICHTS bis dahin mitbekommen, dass da irgendetwas im Raum stehen würde. Und es war für ihn absolut selbstverständlich, dass ich an de Bestattung meiner Mutter teilnehmen könnte und ich keine Nachteile im Praktikum dadurch haben würde. Etliche in meiner Verwandtschaft kamen darauf überhaupt nicht klar, dass ich sowohl das Praktikum so knallhart durchzog wie auch das weitere Studium. Das wollte überhaupt nicht in ihre Köpfe und führte letztlich auch zum Bruch mit einem wesentlichen Teil der Verwandtschaft. Bis heute. Zwischenzeitlich war auch das Verhältnis zwischen meinem Vater, meiner Schwester und mir, vorsichtig gesagt, unterkühlt. Mein Vater und meine Schwester hatten sich sechs Wochen lang krankschreiben lassen. Jahre später sagten sie mir, dass sie das nicht nochmal machen würden und meine Herangehensweise im Nachgang betrachtet doch wohl die Richtige Art war.
Doch gibt es in der Trauerarbeit einen „richtigen“ Weg? Nein! Jeder Mensch trauert anders. Für mich war es der Weg, mit meiner täglichen Routine weiterzumachen. Für mein Vater war es als Berufskraftfahrer sicherlich der richtige Weg, wenigstens die erste Zeit sich krankschreiben zu lassen. Und meine Schwester verarbeitete diese Zeit schließlich damit, dass sie von einer Party zur nächsten zog. Jeder muss für sich einen Weg finden, mit dieser Situation umzugehen. Was sich gut und richtig für den Trauernden anfühlt ist nicht falsch! Falsch wäre es, sich von Dritten ein schlechtes Gewissen einreden zu lassen, wenn man nicht so trauert, wie sie es für angemessen halten. Jeder darf gerne Tipps oder Ratschläge geben. Aber Hilfe aufdrängen, ist falsch. Das wäre sogar kontraproduktiv und könnte dazu führen, dass Menschen sich erst recht in eine Selbstisolation begeben. Und damit erst recht in eine Depression abrutschen.
Mein Studium zog ich schließlich trotz aller Schwierigkeiten, die in den nächsten Jahren noch folgten, erfolgreich durch. Die Jahre 2005/2006 waren schließlich für mich wieder eine besonders schwere Zeit. In vielerlei Hinsicht.
Beruflich hatte ich ein Jahr zuvor ein Projekt geschmissen, bei dem ich viel zu lange auf der Stelle trat und von allen Seiten Druck bekam, endlich zu liefern. Anfang des Jahres verstarb überraschend ein sehr geschätzter Arbeitskollege, der mir bei meinem Projekt mit vielen Ideen und Basteleien von Gerätschaften für meine Experimente half. Ohne ihn hätte ich das Projekt wahrscheinlich schon sehr viel früher als „undurchführbar“ an die Wand geklatscht. Woran starb er? Eigentlich eine völlig banale Geschichte. Ein Blutgefäß von/zum Herzen war aufgrund einer verschleppten Erkältung geschwächt und mitten in der Nacht gerissen. Man kann sich denken, wie hoch da die Überlebenschancen selbst in Deutschland sind.
Zu meinem Leidwesen hatte mein Vater einige Monate später einen schweren Arbeitsunfall. Ein LKW-Fahrer rammte bei einem Überholvorgang seinen LKW. Die Kollision war so heftig, dass die Trümmer sehr großzügig über die dreispurige Autobahn verteilt wurde. Einschließlich des Fahrerhauses, in dem mein Vater, durch den Sicherheitsgurt gesichert, quer über die Autobahn geschleudert wurde.
Das alles führte schließlich dazu, dass ich das bestehende Stipendium auslaufen ließ, wohl wissend, dass ich dann lediglich ALG II bekommen würde. Das war mir zu dem Zeitpunkt vollkommen egal. Ich wollte einfach nur noch raus aus dieser Situation, die alle meine Kraft und Energie kostete und ich mich im Freien Fall zu befinden schien. Mir war zu dem Zeitpunkt voll bewusst, dass Ende meiner wissenschaftlichen Karriere, zumindest an der Universität, bedeuten würde. Aber ich dachte mir, lieber ein Ende mit Schrecken als ein Schrecken ohne Ende.