Guten Morgen!
Ausgehend von dem Thread "Unruhe und Nervosität" hier möchte ich etwas zum Verständnis beitragen.
Da meine Erfahrungen sich ausschliesslich auf das deutsche Gesundheitswesen beziehen und es sicherlich große Unterschiede zwischen den Ländern gibt, bitte ich beim Lesen diesen Umstand zu beachten.
Ausgehend war eine Frage, in der ein Lebenspartner berichtet, dass seine Freundin unter Unruhe und Nervosität leidet. Er wolle wissen, was "man" da machen könne, beschreibt kurz eine schwierige Lebenssituation der Freundin mit "stressigen" Lebensbedingungen und deutet an, dass mittlerweile auch er unter der Situation leide.
In den folgenden Antworten sind mir sehr typische Kernaussagen besonders aufgefallen:
- "Tu was, was Dir gut tut."
- "Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind unzumutbar lange."
- "So schlimm, dass man eine Psychotherapie bräuchte, ist das ja noch gar nicht."
- "Erst als Selbstmordgefahr in´s Spiel kam, da hat sich was hinsichtlich der Termine etwas verbessert, und dann hat es immernoch zu lange gedauert."
- "Der kinderpsychiatrische Dienst..."
Vielleicht ein guter Grund, einemal grundlegende Dinge über Psychotherapie zu betrachten:
Psychotherapie:
ist ein bewusster und geplanter interaktionelaler Prozess zur Beeinflussung von Verhaltensstörungen und Leidenszuständen, die für behandlungsbedürftig gehalten werden, in Richtung auf ein definiertes, nach Möglichkeit gemeinsam erarbeitetes Ziel mittels lehrbarer Techniken auf der Basis einer Theorie des normalen und pathologischen Verhaltens. In der Regel ist dazu eine tragfähige emotionale Bindung notwendig. (Definition von Strotzka, 2011).
Es wird stren unterschieden zwischen erwachsenen-psychotherapie und Kinder- und Jugendpsychotherapie. Die Ausbildung hierzu ist eine komplett andere.
Ich schreibe hier nur über das, wovon ich mich auskenne, und das ist die Erwachsenen-Psychotherapie und die Psychiatrie für Erwachsene.
Psychotherapie gibt es ambulant (Praxen), teilstationär (z.B. Tagesklinik) und stationär (z.B. im Krankenhaus)
Psychotherapie aus Sicht der Krankenkassen:
Es gibt bis Herbst 2020 drei Wege, eine Psychotherapie, die durch die gesetzlichen Krankenkassen bezahlt wird, anbieten zu dürfen:
- psychologische Psychotherapie (Das heisst ein Psychologie-Studium (Bachelor und Master und dann eine Zusatzausbildung
- Medizinstudium und anschliessende Facharztausbildung
- Therapeut mit Psychotherapieerlaubnis nach dem Heilpraktikergesetz
Seit Herbst 2020 gibt es die Möglichkeit, direkt ein Psychotherapiestudium aufzunehmen. Diese hat derzeit noch keine gültige gesetzliche Grundlage und ich weiss nicht viel darüber, da solche Betrachtungen sehr weit hinter mir liegen...(manchmal fühle ich mich so alt)
Es gibt eine Vielzahl von psychotherapeutischen Verfahren, die Krankenkassen erkennen derzeit (d.h. sie zahlen für) 4 Verfahren:
- Verhaltenstherapie
- tiefenpsychologisch fundierte Psychotherapie
- Analytische Therapie
- systemische (Familien-) Therapie
Eine Psychotherapie ist eine durch die Krankenversicherung bezahlbare Leistung. Hier unterscheidet die gesetzliche Krankenkasse folgende Therapieformen:
- Akuttherapie (12h a 50 min) zur Stabilisierung
- Kurzzeittherapie (max. 2x12h a 50 min)
- Langzeittherapie (i.d.R. max 80-100h) je nach Verfahren, 48 h bei der systemischen Therapie
Hinzukommen als abrechenbare Leistung die psychotherapeutische Sprechstunde (auch Vorraussetzung für eine Kostenübernahme durch die gesetzlichen Krankankassen), diese ist
3 mal 50min lang.
Hinzukommen sogenannte psychotherapeutische Gespräche, hier können bis zu 15x 10 min pro Quartal (drei Monate) abgerechnet werden.
Zum Genehmigungsverfahren:
Nicht genehmigungspflichtig sind:
- Gespräch, Sprechstunde
Anzeigepflichtig (das heisst, man muss die Krankenkasse darüber informieren, dass es stattfindet sind:
- Akuttherapie
Genehmigungspflichtig sind:
-Kurzeittherapie (erfahrene Therapeuten beantragen die Feststellung der Leistungspflicht der gesetzlichen Krankenkassen und bekommen diese dann nach etwa 3 Wochen)
- und Langzeittherapie (Hier und auch bei Kurzzeittherapien durch weniger erfahrene Kollegen muss ein Bericht an einen Gutachter geschrieben werden, etw 3 DinA4 Seiten mit Angabe von Krankheitsbild, Psychodynamik (Wie ist das Bild zu erklären) Behandlungsansätze und Prognose). Der Gutachter entscheidet, ob es sinnvoll ist, die Krankenkasse übernimmt dann die Kosten oder lehnt den Antrag ab. (Einschub: Nach etwa 25 jahren der Kassentätigkeit habe ich noch nie einen Antrag abgelehnt bekommen.) Sollte der Antrag abgelehnt werden, gibt es die Möglichkeit, einen Widerspruch einzulegen, dann geht der begründete Widerspruch an einen sogenannten Obergutachter, der dann über den Antrag entscheidet.)
In Abgrenzung dazu gibt es
- Die "Psychiatrie"
(kleiner Tipp: alles was mit -iatrie endet kommt von griechisch ἰατρός (iatrós), deutsch ‚Arzt‘. Also Geriater, Pädiater und Psychiater sind immer Ärzte.
Diese lustigen Gesellen kommen in stationärer (Krankenhaus), teilstationärer (Tagesklinik u.ä.) und ambulanter Form (Praxis) daher.
- Der "psychiatrische Dienst"
Meist offizielle Stellen beim Kreis, mehrere Berufsgruppen arbeiten zusammen (Psychiater, Psychotherapeuten, Sozialpädagogen, gesundheitswissenschaftler, Verwaltungsangestellte etc.) Hier wird Beratung und die verpflichtende Dienstleistung nach den einzelnen Gesetzen und Vorschriften sichergestellt. Aber i.d.R. keine Psychotherapie im eigentlichen Sinn sondern nur die Begelitung auf dem Weg dahin.
- "Beratungsangebote"
Viele Träger (Caritas, Diakonie, AWO, Kirchen, Vereine) bieten Hilfe und Beratung an. Meist oder so gut wie nie jedoch Psychotherapie.
So, reicht erstmal.
Wenn es Fragen gibt: dazu ist das Forum ja da.
Im nächsten Abschnitt gehe ich mal auf die im erwähnten Thread gemachten Äusserungen ein.
Bis dann
DocAlmi