... 2.) "Die Wartezeiten auf einen Therapieplatz sind unzumutbar lange."
Kurze Betrachtung der Lebensrealität einer psychotherapeutischen Praxis.
Eine Woche hat 5 Arbeitstage.
Ein Tag hat 8 Arbeitsstunden.
Macht 40 Arbeitsstunden die Woche.
Eine Psychotherapie erfordert in der Regel eine Sitzung pro Woche.
Sie dauert im Schnitt etwa 60-70 Stunden an.
Also 60-70 Wochen. Da ich mit meinen Patienten sehr ungern in Urlaub fahre, wir nicht immer gemeinsam krank werden und ich hin und wieder auch mal gerne unbegleitet zu einer Fortbildung fahre zieht sich eine Psychotherapie ungefähr 2 Jahre hin.
Meiner Einschätzung nach ist der Beruf des Psychotherapeuten anstrengend.
Das ist in der Wahrnehmung meines Umfelds sehr unterschiedlich. Von "sei mal ehrlich, das sind doch alles nur überspannte Lehrersgattinnen, die auch mal ein bisschen Aufmerksamkeit wollen (O-Ton aus der Familie) bis zu "das könnte ich nicht, mir jeden Tag Probleme und Sorgen anhören" und gipfelnd in "Psychiater und Psychotherapeuten haben doch selber alle einen an der Waffel" als Ausdruck einer antipsychiatrischen Grundhaltung ist mir da nix fremd.
Ich behaupte, dass es kaum Möglich ist, mehr als etwa 30-32 "echte" Psychotherapiepatienten gleichzeitig zu behandeln. Der Rest ist minderschwer, Einsamkeitsproblematik, psychosoziale Hilfestellung und Rentenjäger.
Demnach ist eine Praxis mit sagen wir mal 32 Patienten für den Zeitraum von zwei Jahren voll ausgelastet.
und:
Es gibt so "wenige" Praxen, weil die Bedarfsplanung und der Schlüssel, nachdem Praxen eröffnet werden dürfen aus 19paarundachtzig stammt.
Es sind einfach zu wenige.
Die Kassen, die kassenärztliche Vereinigung und der gemeinsame Bundesausschuss wollen nicht mehr, weil PT ist teuer.
Viele meiner Kollegen, ich auch, führen keine Warteliste. Es ist schlicht und ergreifend Unsinn, eine Warteliste von mehr als 5 Therapiebedürftigen zu führen.
Folgende Lösung hat sich in meiner Praxis und denen meiner Kolleginnen und Kollegen herauskristallisiert.
Der Großteil der Patienten hat eine auf Jahre ausgelegte Psychotherapie. Ausgefallene Stunden, also Absagen von Terminen werden mit Sprechstundenterminen oder Kurzgesprächen belegt. Diese werden sehr kurzfristig (3 Tage bis max 1 Woche) belegt. In diesen Terminen wird Diagnose, Therapiebedürftigkeit, Grundzüge der Problemstellung, therapeutische Möglichkeiten etc. abgeklärt.
Einige davon bedürfen einer Akuttherapie. Diese Patienten können nicht Monatelang auf einen Platz warten. Hier erfolgt die Entscheidung spätestens nach 2-3 Terminen in der Sprechstunde. Akuttherapien beginnen akut, also nicht länger als etwa 1-2 Wochen. Sollte kein Platz frei sein, erhält der Hilfesuchende Hilfestellung bei der Versorgung durch Weitervermittlung, Anbindung an andere Hilfsangebote oder einfach durch ein Schreiben, gerichtet an Kollegen mit dem warum und weshalb ich denke, dass eine Akuttherapie sinnvoll ist. Ausserdem hat jeder, der meine Praxis betritt, meine Handynummer. Ich habe nur eine Nummer, privat wie beruflich und wenn ein Pat. in eine Krise gerät, dann darf er mich gerne anrufen, auch mitten in der Nacht. Das klappt seit mehr als 20 Jahren, und obwohl mir Kollegen und freunde da etwas Unverständnis entgegenbringen, habe ich keine Veranlassung, da irgendetwas dran zu ändern.
Zur eigentlichen Psychotherapie und einer Betrachtung der Wartezeit:
Psychodynamische Prozesse, die Leid erzeugen, haben ihren Ursprung in einer Zeit, die Jahrzehnte zurückliegt.
Die Betroffenen rennen seit Jahren und Jahrzehnten mit den Beschwerden rum.
Bei Aufnahme einer Psychotherapie kommt ein Prozess in Gange, der sich über Jahre hinzieht und dessen Erfolge man oft erst nach Abschluss einer Therapie oder mitunter noch später bemerkt.
Wir vollbringen keine Wunderheilungen (OK, für Privatpatienten jeden dritten Mittwoch im Monat wirke ich schon mal Wunder).
Die Wartezeit (zum beispiel drei oder vier Monate) ist gemessen an der Krankheitsgeschichte und der zu erwartenden Therapiedauer nahezu unerheblich.
Eine Psychotherapie ist mitunter sehr sehr belastend. Man braucht ein gehöriges Maß an Stabilität und Sicherheit, um solche Belastungen auszuhalten.
Deswegen sind hochakute, schwere und gefährliche Zustände aus meiner Sicht nix für eine Psychotherapie.
Mit einem Gegenüber, bei dem ich befürchten muss, dass ein Ansprechen eines belastenden Aspektes zu dem Wunsch, sich zu entleiben führt, kann ich nicht arbeiten. Entweder schraube ich dann meine Intervention auf ein Minimum zurück oder spreche es gar nicht an. Dann kann ich aber nicht helfen. Ein Dilemma.
Deswegen ist vorher intensiv zu prüfen, inwieweit eine Psychotherapie überhaupt (zum gegenwärtigen Zeitpunkt) Sinn macht.
Wer so krank ist, dass er eine Wartezeit nicht aushält, ist in einer Psychotherapie eh wahrscheinlich nicht richtig.
Zumindest in einer PT, die konfliktorientiert und defizitorientiert arbeitet.
Es mag Kolleg*innen geben, die das anders sehen, aber das ist das Schöne daran. Nicht jeder Therapeut*in eignet sich für jeden Patienten. Das muss im Gespräch gefunden werden.
Und noch was Praktisches:
Kommt ein Mann zum Arzt...(sie verstehen) und sagt folgendes:
Mann: "Isch rufe für mein Frau an, die hat eine DRINGENDE Überweisung zur Pschüchieterapie. Ich will einen Termin ausmachen, damit Sie bei Ihnen mit einer Therapie anfangen tun kann."
Ich: "Ich würde gerne mit Ihrer Frau selber re..."
Mann:" Die kann nit, die is grad nit da."
Ich: "Wo ist sie denn?"
Mann: "Die tut arbeiten."
Ich: " Dann muss sie mich nach ihrer Arbeit oder am Wochenende anrufen."
Mann: "das geht net, die hat immer viel zu tun. (ärgerlich) deswegen rufe ich Sie ja an!"
Ich: " Das ist sehr freundlich von Ihnen, aber ich muss schon wissen, worum es geht, und das erfahre ich am besten von...."
Mann: "Mein Frau und ich wir haben keine Geheimnisse, isch kann ihnen alles sagen"
Ich: "Das ist schön, dennoch möchte ich mit Ihrer werten Gattin selber gerne..."
Mann: "Also machen sie jetzt eine Therapie mit meiner Frau oder nicht?"
Ich: "das hängt ja von dem gespräch mit Ihrer Frau ab..."
Mann: "Also nit?"
Ich: (ausweichend: "wie gesagt, ich muss da vorher mit Ihrer Frau persönlich sprechen...Wann hat sie denn Zeit?"
Mann: "Die kommt um 19 Uhr nach Hause, jeden Tag. Auch Samstag. Die geht um 6 aus dem Haus und kommt um siebene wieder nar Hus."
Ich: (etwas Augenrollen dabei: " ja wann will sie denn dann zu den Therapiesitzungen kommen? Etwa einmal die Woche?"
Mann: "Ja um 20 Uhr oder so"
Ich: "Da hab ich aber schon lange Feierabend."
Mann: "Sie ham nicht um 20 Uhr noch auf? komisch...."
Hier schaltet mein Gehirn ab. Der Rest ist Hirnstammreflex und entbehrt sinnvollen Inhalt.
Was lernen wir daraus?
1.) Selber anrufen!
2.) Zu Telefonzeiten anrufen (steht auf der Seite der jeweiligen kassenärztlichen Vereinigung, wo man auch die Telefonnummern aller zugelassenen Therapeuten findet.
3.) Nicht versuchen, den oder die Therapeut*in festzunageln. Ein Therapieversprechen am Telefon ist unseriös und unhaltbar.
4.) Was willst Du? Du willst einen Termin, um den oder die Therapeut*in kennenzulernen. Nicht mehr nicht weniger. Also frag danach. Du willst ein Erstgespräch, oder eine Sprechstunde. (ja woher soll ich das denn wissen? Ich erwarte von meinen Patienten, dass sie sich informieren über Psychotherapie. Tun sie das nicht, kläre ich gerne auf, aber bitte freundlich im Ton.)
5.) Bei ablehnender Antwort vielleicht einfach mal nach 2 oder drei Wochen nochmal anrufen.
Ich bekomme pro Woche ungefähr 20-30 Anfragen. Wenn wer dabei ist, der zweimal anruft (und mir das auch sagt) dann weiss ich: Hoppala, da ist jemand, der sich echt bemüht. Mit solchen Leuten zu arbeiten macht mehr Freude und ist erfolgreicher, als wenn da das arme Vögelchen im Nest sitzt, den Schnabel weit aufsperrt, schreit wie am Spiess und mir vermittelt: Fütter mich, fütter mich. Ich selber tu nix. Du bist verantwortlich für mein Wohlergehen.
Nein, bin ich nicht!
6.) Freundlich sein. Ich möchte am Telefon nicht angekackt werden. "Ahh, sie gehen ja nie ans Telefon, wenn ich grad drangehe ist nahezu ein Therapieausschlussgrund."
Doch, tu ich, aber ich kann nur mit einem nach dem anderen nacheinander telefonieren. Und wenn ich mit person A spreche, dann muss Person b warten. is doof, aber Therapeuten sind unteilbar und ich betreibe jetzt kein Call-Center.
Ich bin übrigens verpflichtet, wöchentlich 200 min am telefon zu warten, ob wer anruft. Also nahezu 3,5h.
Vergütung:
0 €
Mindestlohn: Freundlichkeit.
Ich mach den Beruf nicht wegen des Geldes, aber auch ich muss meine Rechnungen zahlen.
So eine Praxis macht Fixkosten von etwa 5-6000 € pro Monat.
Müssen erst mal rein, sonst muss ich zumachen.
So, wie immer zu lange.
DocAlmi