Eigentlich sind Engpässe im Handel und Lieferzeiten ein gutes Zeichen: es liegt eine (zu) hohe Nachfrage vor. Die Lockdowns in 2020 haben die globalen Logistikketten heftig durcheinander gebracht, weil z.B. Schiffe nicht abgefertigt wurden. So stapeln sich nun Container an den falschen Stellen und fehlen dafür anderswo. Die Philosophie der just-in-time Produktion und der "Lagerhaltung auf der Straße" rächt sich in so einem Fall. Alle Unternehmen, die nicht auf Zulieferer angewiesen sind, entweder weil sie noch altmodische Materiallager haben oder weil sie z.B. Rohstoffe auf/aus dem eigenen Boden abbauen (Waldbesitzer, Steinbrüche, Minen) konnten nahezu unbeeindruckt weiter produzieren.
Der mittlerweile von allen möglichen Branchen beklagte Chipmangel wird immer mehr als Ausrede für eigenes Versagen in der Unternehmensführung und Produktionsplanung missbraucht. Den ersten ernsthaften Chipmangel gab es mit dem Boom der Kryptowährungen, denn diese müssen auf Prozessoren sehr aufwendig berechnet werden. Da ähnlich wie bei der Produktion und dem Verkauf von Drogen gewaltige Gewinne locken, hat sich da ein riesiges Business entwickelt. Ab 2018 haben die die führenden Chiphersteller mit Mining-Chips mehr Umsatz gemacht, als mit anderen Sparten wie Chips für Smartphones, Grafikkarten, Industrie oder eben Automotive. Allen voran war die chinesische Firma Bitmain mit ihrem ASIC "Antminer" Auftraggeber für Mining-Chips.
Als sich in Europa und USA der Dieselskandal entwickelte und sich die Diskussion um die Einführung von E-Autos in eine eindeutige Richtung entwickelte, kam noch die Verunsicherung der Autokunden dazu: sie hielten sich zum einen bei Diesel-PKW massiv zurück (was insbesondere europäische Hersteller traf und trifft) und zögerten mit der Bestellung von Verbrenner-Fahrzeugen generell.
Dann kam Corona und mit der Pandemie kamen auch die Produktionsunterbrechungen in den Autofabriken. Die Einkäufer der Autoindustrie haben das just-in-time-Prinzip perfekt verinnerlicht und sitzen auf einem ziemlich hohen Ross. D.h. sie stornierten mal eben die geplanten Chipaufträge, die sie wegen der stillstehenden Bänder ja erstmal nicht brauchten. Die Chiphersteller taten, was jeder Unternehmer tun würde: sie boten ihre freigewordenen Fertigungskapazitäten anderen Kunden an, die sie gerne belegten. Zumal der Anteil an Automotive-Chips nicht gerade riesig ist bei den Chipherstellern. Beim weltgrößten Auftragsfertiger TSMC in Taiwan machten vor Corona die Auto-Chips etwa 5% des Auftragsvolumens aus und nach den Stornierungen noch etwa 3%. D.h. die "Chipkrise" in der Autoindustrie entspricht etwa 2% des Auftragsvolumens bei den Chipherstellern.
Was die (durchaus arroganten) Einkäufer der Autokonzerne und Tier1-Zulieferer offenbar nicht berücksichtigt haben, sind die Zeitkonstanten bei der Chipherstellung: von Auftragseingang bis Chip-Auslieferung vergehen zwischen 3 und 6 Monate. Und wenn der Chiphersteller keine Slots in der Fertigung frei hat, kann er seine Produktionskapazitäten nicht einfach so aus dem Stand erweitern. Chipherstellung ist extrem aufwendig und teuer. Es lohnt sich nur, bei 100% ausgelasteten Linien in den Werken. Da wird jetzt schon 24/7/365 produziert. Das einzige, was man tun kann, ist weitere Fertigungslinien zu bauen. Das dauert vom Planungsbeginn bis zum Produktivbetrieb aber locker mal 3-5 Jahre. Und da nicht täglich neue Prozesslinien gebaut werden, gibt es nur eine überschaubare Anzahl an Spezialisten, die das weltweit überhaupt können. Die kann man nicht klonen. Also ist man recht schnell am Anschlag und kann nicht beliebig viele neue Linien gleichzeitig bauen. Abgesehen davon, dass aktuell eine neue Halbleiterfabrik mit <10nm-Technologie locker 10Mrd. US-Dollar kostet. Da gibt es nicht sehr viele Investoren, die das finanzieren können und wollen. Denn wenn man Überkapazitäten aufbaut, kann man sein Invest abschreiben. Infineon hat vor einigen Jahren mal ein fast neues Werk in den USA (war glaube ich keine 3 Jahre in Betrieb), das knapp 2 Mrd. Dollar gekostet hatte, schließen müssen, weil damit absehbar kein Geld mehr zu verdienen war. Sowas tut weh und man hält sich dann mit großen Investitionen erst mal wieder zurück.
Was man bei der ganzen Mangel- und Lieferkettendiskussion nicht vergessen darf, ist der Strukturwandel, in dem sich die Autoindustrie weltweit befindet.
Die Entscheidung für batterieelektrische PKWs als Massenprodukt ist jetzt gefallen und nun geht es für die alte Autoindustrie darum, hier nicht unterzugehen. Die Wahrscheinlichkeit für eine Ende viele klassischer Autohersteller ist sehr hoch. Vorbilder dafür gibt es in der Industriegeschichte genügend.
In Europa gab es mal eine führende Unterhaltungselektronik-Branche (Hifi, TV). Die Unternehmen sind heute ALLE weg. Man hat den Übergang zur hochintegrierten Elektronik (Radios, Stereoanlagen) in den 1980ern/90ern nicht schnell genug nachvollzogen (quasi auch schon eine Chipkrise) und musste zusehen, wie die Chipindustrie (auch die gab es mal in Europa recht ordentlich) in Japan die globale Führung übernahm.
Parallel dazu gingen die Hersteller von Fernsehgeräten in Europa unter, sie verloren mit dem Ende der Bildröhren ihre Technologiekompetenz, die Bedeutung der Flachbildschirmtechnik erkannten sie nicht (obwohl diese hier erfunden wurde: Prof. Lüder, Institut für Bildschirmtechnik, Uni Stuttgart). Die Panels für Fernseher und Monitore werden heute in Japan und Korea produziert. Die europäischen TV-Hersteller sind Geschichte.
Dann kam das Mobiltelefon - überall komfortable funktionierender Mobilfunk ist im Grunde eine europäische Erfindung (GSM ist ein EU-Standard), aus einem finnischen MIschkonzern, der mehr Geld mit Autoreifen als mit Elektronik machte, wurde der mächtigste Handyhersteller der Welt. Bis 2006 das iPhone kam, anfangs sogar von Tech-Riesen wie Microsoft unterschätzt (Steve Ballmer: "Kein Mensch wird sich zum telefonieren je eine Glaskachel an die Backe halten"). Ein paar Jahre später war Nokia dann auch Geschichte.
Ähnlich ging es der Textilindustrie in den 1970ern und der Stahlindustrie in den 1980ern in Europa. Im Grunde sind das normale absehbare Vorgänge. Uns geht es deswegen ja nicht schlechter in Europa.
Genauso wird unsere alte Autoindustrie verschwinden. In zehn Jahren wird es vermutlich keinen europäischen Autokonzern mehr geben, der international noch von Bedeutung ist.
In vielen Branchen ist der momentane "Mangel" ein willkommenes Argument, abzuzocken. Bei Konstruktionsholz ist das momentan der Fall. Es gibt (wieder) genügend Holz auf dem Markt, der Handel versucht natürlich, möglichst lange, die überhöhten Preise mitzunehmen. So lange die Leute bereit sind, für einen Meter Dachlatte einen Euro zu bezahlen, werden die Preise so hoch bleiben. Da die Baubranche ohnehin überhitzt ist, passiert da auch so schnell nichts. Und mit der Aussicht, Bestandsgebäude verstärkt energetisch sanieren zu müssen und auf Teufel komm raus PV-Anlagen montieren zu müssen, wird sich der Bausektor so schnell nicht entspannen.
Ausserdem lässt sich mit dem Thema Mangel schön Aufmerksamkeit generieren. Die Medien lieben so was. Beispiel Hartweizenmangel: "Huch! Nudeln werden knapp!", "Geht uns das Benzin aus?" oder jetzt "Schnelltests: werden sie zur Mangelware?". Klar werden sie, das sind jetzt natürlich alles auch selbsterfüllende Prophezeihungen, wenn man die Leute aufscheucht und sie mehr oder weniger direkt auffordert, zu hamstern. Und der Handel freut sich.
Gut wäre jetzt mal ein Konsumentenstreik: zwei Monate Bauholz-Boykott oder vier Wochen keine Nudeln kaufen. Aber das weden wir wohl nicht erleben.
Grüsse
Tom