Das Problem beim "Justieren" des Kurvenverlaufs ist die Exponentialfunktion. Ein bisschen dran rumdrehen hat sehr schnell, sehr starke Auswirkungen.
Stichwort Immunisierung: wir dürfen nicht vergessen, dass die Sterblichkeitsrate (bezogen auf die amtlich registrierten Erkrankungsfälle) immer noch teilweise extrem hoch ist: in Belgien rund 16%, Italien rund 14%. Selbst in AT mit 3% und DE mit 4% ist die Sterblichkeit signifikant hoch.
Nimmt man eine - von Drosten & Co. schon vor Monaten prognostizierte - Durchseuchungsrate von 66% Prozent der Bevölkerung an, damit die "Herdenimmunisierung" effektiv ist, dann reden wir auf dem Weg dorthin von jeweils so vielen Corona-Toten:
Belgien: 11,46 Mio. EW, 15,76% Covid-19-Sterblichkeit => 1,2 Mio. Tote
Italien: 60,36 Mio. EW, 13,71% Covid-19-Sterblichkeit => 5,5 Mio. Tote
Österreich: 8,86 Mio. EW, 3% Covid-19-Sterblichkeit => 177.000 Tote
Deutschland: 83 Mio. EW, 4% Covid-19-Sterblichkeit => 2,2 Mio. Tote
Wenn wir optimistisch Streecks Heinsberg-Studie mit 919 getesten Personen zugrunde legen und wie er annehmen, dass sich das auf ganz D hochrechnen ließe, dann hätten wir momentan in D statt der 6.993 Tote/166.152 Erkrankte = 4,2% eine Sterblichkeitsrate von 6.993/1.800.000 = 0,4%, also um den Faktor 10 niedriger. Angenommen, man könnte das auch auf andere Länder übertragen, ergäbe sich folgendes Bild:
Belgien: 120.000 Tote
Italien: 550.000 Tote
Österreich: 17.700 Tote
Deutschland: 220.000 Tote
...meiner Meinung nach auch dann noch keine akzeptablen Werte, wenn sie in zu kurzer Zeit auftreten.
Je nach Verlauf der Infektionskurve über mehrere Jahre, bis das "Durchseuchungsziel" von 2/3 der Bevölkerung erreicht ist, müsste man mit diesen zur normalen Todesfallstatistik zusätzlichen Toten pro Jahr rechnen:
Belgien:
1 Jahr: 120.000 Tote/a, 2 Jahre: 60.000, 3 Jahre: 40.000, 4 Jahre: 30.000
Italien:
1 Jahr: 550.000 Tote/a, 2 Jahre: 275.000, 3 Jahre: 183.000, 4 Jahre: 137.000
Österreich:
1 Jahr: 17.700 Tote/a, 2 Jahre: 8.850, 3 Jahre: 5.900, 4 Jahre: 4.425
Deutschland:
1 Jahr: 220.000 Tote/a, 2 Jahre: 110.000, 3 Jahre: 73.333, 4 Jahre: 55.000
Das ist nüchterne Mathematik, basierend auf Streecks optimistischem Dunkelziffer-Ansatz. Man könnte jetzt, frei nach dem Motto "Lieber ein Ende (der Epidemie) mit Schrecken, als ein (Epidemie-)Schrecken ohne Ende", sagen: "Lasst es uns hinter uns bringen, hebt alle Kontaktbeschränkungen auf und wir haben dann halt 220.000 Zusatz-Tote im nächsten Jahr, aber dann ist es ausgestanden." Das ist es aber nicht. Denn unsere momentan niedrigen Corona-Todeszahlen in AT und DE sind wesentlich dem noch gut funktionierenden Gesundheitssystem zu verdanken.
Lassen wir die Infektionswelle frei laufen, steigen die klinischen Fälle entsprechend steil an. Momentan sterben in D etwa 30% der intensivbehandelten Covid-19-Patienten. Wenn man mal annimmt, dass nahezu alle Corona-Toten vorher auf Intensivstation waren und das Verhältnis gestorbene/genesene Menschen konstant bei 30/70 liegt, kann man aus den Corona-Toten den Bedarf an Intensivbetten herleiten:
220.000 Tote = 30% der Intensiv-Fälle => 733.333 Intensiv-Fälle gesamt. Laut der Deutschen Krankenhaus-Gesellschaft DKG gab es in D vor Corona etwa 20.000 Intensivplätze mit Beatmungsmöglichkeit und jetzt ca. 30.000. Insgesamt könnte man also 30.000x365Tage = 10,95 Mio. Beatmungstage anbieten. Im Schnitt liegt die Beatmungsdauer pro Covid-19-Fall bei 9 Tagen, man könnte also 1,2 Mio. Fälle pro Jahr rein rechnerisch versorgen. Würde also scheinbar ausreichen.
ABER: in New York sehen wir gerade ein überlastetes Gesundheitssystem mit knapp 8% Sterblichkeitsrate und es überlebt nur 1 von 10 intensivbehandelten Covid-19-Patienten. Umgerechnet auf unser Modell (mit ursprünglich 220.000 Toten in D bei 4%) ergäbe das 4,4 Mio. Intensiv-Fälle, und wir hätten alleine in D ein gewaltiges Problem, weil wir mit den 30.000 Beatmungsplätzen nur 1,2 Mio. Intensiv-Fälle pro Jahr behandeln könnten. D.h. man müsste die Infektionen über 3-4 Jahre verteilt bekommen.
Das alles deutet für mich auf dieses Szenario hin:
Die Maßnahmen zur Verlangsamung der Infektionsausbreitung müssen noch so lange andauern, bis eine 2/3-Immunisierung der Bevölkerung "schonend" erreicht worden ist.
Im Idealfall haben wir bis nächstes Jahr einigermaßen wirksame Impfstoffe und können z.B. Risikogruppen dann innerhalb von wenigen Wochen/Monaten mit Impfkampagnen aus den Schutzmaßnahmen rausnehmen.
Im ungünstigsten Fall klappt das mit dem Impfen nicht wie erhofft und wir müssen auf die natürlich Art immunisieren. Dann könnte ich mir eine Stop-and-Go-Taktik vorstellen. Anstelle permanenter Beschränkungen über ggf. mehrere Jahre, macht man einmal im Quartal einen 3wöchigen "Komplett-Stopp" für alle und alles. Das wäre planbar, auch für die Wirtschaft und das Bildungswesen. Der 3-Wochen-Stopp bedeutet strikte häusliche Quarantäne, a la Spanien. Dann laufen sich Infektionsherde nämlich tot: Erkrankte Menschen genesen (oder versterben) in dieser Zeit und können so das Virus nicht weiter tragen. D.h. man hungert die Infektionswelle immer wieder aus.
Grüsse
Tom