Es ist "menschlich", das persönliche Umfeld zu verallgemeinern, aber es funktioniert nicht. Krasses Beispiel: aus der Tatsache, dass ich noch nie einen Mord persönlich mit ansehen musste, kann ich nicht schlußfolgern, dass es keine Morde gibt und alles nur erfundene Geschichten sind.
Ich hab nen hartnäckigen "Corona-Skeptiker" mal gefragt, ob er denn eine Patientenverfügung unterschreiben würde, in der er festlegt, dass er im Falle einer Covid-19-Erkrankung keine lebenserhaltenden Maßnahmen wie Beatmung bekommen will. Nach einem verblüfft-verständnislosen Blick kam dann ein "Nein, natürlich nicht!"
Unser Nachbar, zwei Häuser weiter, Landwirt, Anfang 40, hat es im Juni voll erwischt mit Covid-19. War wochenlang komplett "platt" und meinte: er wollte nur liegen, liegen, liegen. Was anderes ging einfach nicht. Er wünscht es keinem und sein Verlauf gilt als verhältnismäßig "mild", weil er nicht ins Krankenhaus musste. Er ist heute noch nicht wieder ganz fit. Eine Verkäuferin aus unserem Dorfladen, 300m von unserem Haus entfernt, hat sich beim Skifahren in Ischgl angesteckt uind war auch wochenlang außer Gefecht. Sie hats nach eigener Aussage ganz gut weggesteckt, auch war der Verlauf eher sehr mild. Insgesamt hatte unsere 4.000-Einwohner-Gemeinde bisher 15 "amtliche" Fälle, also positiv getestete. Das soziale Leben in den Dörfern liegt seit dem ersten lockdown aber praktisch am Boden: sämtliche Dorffeste, Vereinsfeiern, Sportereignisse sind für dieses Jahr abgesagt worden. Chöre proben nicht, Musikkapellen spielen nicht, es gibt keine "Präsenz-Gottesdienste" und die freiwillige Feuerwehr darf nur angeordnete Einsätze ausführen, aber keine sonstigen Tätigkeiten, um unnötige Infektionsrisiken zu vermeiden. D.h. die Schutzmaßnahmen in der örtlichen Gesellschaft sind nach wie vor vergleichsweise streng.
An Corona wird - in Deutschland - vor allem in Alters- und Pflegeheimen gestorben. Also für die meisten Menschen, die im aktiven Teil ihres Lebens stehen, eher unsichtbar. Eine Bekannte von mir ist Altenpflegerin/Stationsleitung. Die bestätigt das. In einem typischen Altersheim mit unter 100 Bewohnern, sterben im Monat normalerweise 2-3 Menschen, das ist nicht ungewöhnlich bei hochbetagten Menschen, oft mit diversen Vorerkrankungen. Diese "Sterberate" ist mit Corona teilweise auf 10-20 Menschen pro Monat angestiegen. Das ist signifikant und es ist dann auch unerheblich, ob diese "Zusatz-Toten" nun an oder mit Corona verstorben sind. Aufgrund der Bedingungen in einem Pflegeheim, kann sich das hochansteckende Sars-CoV-2-Virus sehr stark verbreiten. Typischerweise sind 50% der Bewohner nach einem Corona-Ausbruch schon infiziert, bevor man es bemerkt und reagieren kann. Und von den Bewohnern stirbt durchschnittlich jeder 5. einige Zeit nach der Infektion. In Zahlen: 100 Bewohner => 50 infizierte Bewohner => 10 Tote. Ausgelöst durch ein einzelnes Infektionsgeschehen.
Wir hatten im Landkreis Reutlingen bislang mehrere solche "Altenheim-Cluster" mit entsprechend vielen Toten.
Dass wir in D/A/CH bislang nicht die Lage von Bergamo oder anderswo erleben mussten, ist zwei Faktoren zu verdanken. Einmal hatten wir einfach Glück, dass die ersten Corona-Cluster nicht bei uns passierten, sondern eben in Norditalien, so konnte man daraus lernen. Und zum anderen haben wir neben dem hauptberuflichen Krankenhaus-/Pflegebereich einen sehr gut organisierten ehrenamtlichen Sektor der Hilfsorganisationen wie dem Roten Kreuz, Malteser, ASB, THW usw. Ohne die engagierte Arbeit tausender Ehrenamtlicher in den Ortsverbänden wäre es nicht möglich gewesen, z.B. von Ausbrüchen betroffene Einrichtungen schnell zu evakuieren, Auffangeinrichtungen für "Erkrankte mit mildem Verlauf" einzurichten und natürlich die ganzen Test-Zentren aufzubauen und zu betreiben. Z.B. wurde in Bad Urach eine belegte Kurklinik komplett geräumt, nachdem dort zwei Corona-Fälle auftraten und anschließend wurde sie als "Isolier-Krankenhaus" für milde Corona-Fälle genutzt. In Kirchheim/Teck bei Stuttgart wurde in kleines Hotel Garni komplett angemietet und vom DRK als isoliertes Quarantänehotel betrieben.
D.h. es wurde und wird hinter den Kulissen enorm viel gearbeitet, das übersieht man gerne nach einem dreiviertel Jahr Pandemie.
Grüsse
Tom