Moin @ll,
auch von mir Dank für den Thread. Mittlerweile tummel ich mich schon locker mehr als 40 Jahre in der „Blaulichtfakultät“ und kann auch bei Notfällen in der Familie erst einmal völlig gelassen reagieren und professionell handeln. Wie es mir dann hinterher geht, steht allerdings auf einem anderen Blatt...
Und ich habe bestimmt schon reichlich völlig schräge Situationen gesehen - ebenso kann ich von mir behaupten auch und gerade durch die Tätigkeit in Katastrophenschutz und Auslandshilfe, die ich bis heute neben dem Rettungsdienst betreibe, einen recht hohen Trainingslevel aufrecht zu halten!
Allerdings hat es mich vor ein paar Jahren auch „eiskalt erwischt“ ...
Die Situation war harmlos, ich war privat unterwegs und wartete an einer Tankstellenausfahrt auf freie Fahrt, als ein älterer Fahrradfahrer regelwidrig aus der falschen Richtung angedüst kam, nicht bremste, dafür brüllte und mir vors Auto kippte. Ich hab ihn nicht berührt, er hat mich nicht berührt ...
Verletzungen? Bagatelle! RTW wollte er nicht ... Erste Hilfe wollte er nicht ... als er anfing, sein Fahrrad zu fotografieren und seine Einkäufe noch über die Straße kullerten schrillten bei mir die Alarmglocken und ich wollte die Polizei hinzuziehen. Obwohl ich an einer großen mir bekannten Kreuzung stand *und* die Straßennamen hätte ablesen können, war ich nicht in der Lage, einen korrekten Notruf abzusetzen!
Die aufnehmende Beamtin mußte mit mir Schritt für Schritt durch das Notrufschema gehen ... und ich habe weiß Gott in meinem Leben schon unzählige Notrufe abgesetzt, angenommen, Rückmeldungen und Nachforderungen abgesetzt!
Es gibt verschiedene Mechanismen, die dafür sorgen, daß der Mensch funktioniert - oder auch nicht...
Da spielt das Adrenalin auch schon mal eine paradoxe Rolle, in dem es eher den Fluchtintinkt steigert (der dann unterdrückt wird und die Folge eher eine Paralyse ist), insbesondere wenn die Situation völlig unverhofft kommt oder der Mensch persönlich involviert ist.
Anders herum ermöglicht genau dieser Stoff auch ein optimales Handeln in Notsituationen und setzt Energie frei, die genutzt werden kann.
Die spannende Frage ist, was ist/sind der/die entscheidenden Faktoren, die die Weiche in die eine oder andere Richtung stellen?
Training und Vorbereitung - wie in diesem Faden mehrfach zu recht angeführt - helfen mit Sicherheit. Aber am Ende des Tages ist es auch immer eine Frage von „Set und Setting“ also wie ist/entwickelt sich die Situation und wie sind meine aktuellen (!) persönlichen Vorraussetzungen?
Bin ich topfit und ausgeruht oder ausgepowert? konnte ich mich einen Augenblick vorbereiten und ist meine Awareness hoch oder werde ich ins sprichwörtliche kalte Wasser geworfen? Gibt es zwischen der Notfallsituation und meiner persönlichen Lebenssituation eine (vielleicht auch zuerst nicht offensichtliche) Verbindung und ich projiziere den Notfall auf mein Leben?
Allein diese wenigen Fragen zeigen bereits auf, daß es eine vielfältige Wechselwirkung gibt/geben kann!
Nein, es gibt kein Patentrezept. Und nein, niemand (!) kann - insbesondere im privaten Umfeld/Alltag ein Fehlverhalten ausschließen!
Das ist keine Schwäche, das ist kein Versagen!
Der einzige Rat kann IMVHO sein, sich so weit als möglich vorzubereiten, die eigenen Grenzen zu erkunden und die eigene Resilienz zu steigern. Und sich darüber im klaren zu sein, daß es persönliche Grenzen gibt und der Mensch nicht immer auf 120% Leistung laufen kann!
Der Mensch braucht Erholungsphasen und muß lernen, seine Selbsterwartung nicht zu hoch anzusetzen ...
Hoffe, meine Gedanken plausibel rübergebracht zu haben ...
Christian