In Bataan verlief unser Alltag strukturierter als in Palawan. Dadurch dass wir einen abgetrennten Wohnbereich hatten,
müssen wir nicht ständig auf unsere Sachen aufpassen. Der Aufwand für Wasserbeschaffung und Toilettengänge reduzierte
sich auf ein angenehmes Maß so dass wir mehr Zeit für andere Tätigkeiten bekamen. Der Mann, der mit uns im Haus
wohnte, war ein findiger Geschäftmann. Er stellte verschiedene Souvenirs aus einfachsten Mittel her und verkaufte sie
auf dem Marktplatz. Papa machte mit, malte und bastelte kleine Modelschiffe nach Vorbild der Flüchtlingsboote. Viele
westliche Mitarbeiter der UNO und Leute die in Drittland ausreisen kauften unsere Andenken. So kam etwas Geld in unsere
knappe Kasse. Der Xuan backte mit seinen Kumpels Brot in selbst gebauten Ofen für den Marktplatz. Ich begleitete einen
Uhrenmacher als Lehrling. Der hatte gut zu tun da viele Uhren früher noch mechanisch und nicht wasserdicht waren.
Ich lernte, wie man eine Uhr öffnet, reinigt, schmiert, den Taktgeber einstellt usw…Ein bisschen Geld bekam ich dafür
jeden Tag. Zu Hause schleppte ich Wasser für den Mitbewohner und er gab mir 10 Dollars die Woche. Die meisten
versuchten irgendwie sich zu beschäftigen, ob mit oder ohne finanzielle Vorteile. Hauptsache man war abgelenkt und
der Tag schneller verging.
Überall lauerten Leuten, die einen Fotoapparat besaßen, und machten fürs Geld Fotos. So kamen wir zu einigen wenigen
Bilder von unserer Zeit in Bataan. Die hatten wir an unsere Familien geschickt damit sie sahen, dass es uns gut ging.
Als wir ein Stück Kürbis mit der Essenration bekam, pflanzte ich die Kerne hinter dem Haus. Der Boden in Bataan war so
fruchtbar, man brauchte nur hinzuspucken und schon wuchs da irgendwas. Meine Kürbispflanze wurde immer größer, kletterte
an dem Gerüst hoch, den ich für sie gebaut hatte. Ich goss und pflegte die Pflanze jeden Tag. Als der erste Frucht heran reifte,
freute ich mich wie ein frisch gebackene Vater auf sein erstes Kind. Als mein Kürbis so groß wie meine Hand war und die Angst
vor Diebstahl zu viel wurde, pflückte ich ihn und kochte daraus eine leckere Suppe. So einfach konnte das Glück sein in einer
Zeit, wo man sich sonst wenig Gründe hatte, sich zu freuen.
Nach vier Monaten in Bataan kam endlich die Erlösung. Wir bekamen unsere Einreisegenehmigung nach Deutschland. Mit
unserem schwerverdienten Geld kauften wir das Nötigste für die Reise. Schuhe, Socken, Pullover…Der Xuan schenkte mir
drei Unterhosen. Das habe ich bis heute nicht vergessen.
Mit dem Bus fuhren wir nach Manila. Man ließ uns einfach vor einem leerstehenden Gebäude, das aussah wie eine ehemalige
Schule, aussteigen. Da sollten wir zwei Nächte bleiben. Darin waren schon etwa 40-50 andere vietnamesische Flüchtlinge, die
auch wie wir auf die Weiterreise warteten. Wir suchen uns einen freien Schlafplatz im Gebäude. Vielleicht gab es da Betten aber
ich selbst hatte keine gefunden. So schliefen wir einfach auf dem Boden. Daran waren wir gewohnt. Ich passte auf unser Gepäck
auf, das aus meiner selbst genähten Reissäcken bestand, während Papa und der Xuan in die Stadt fuhr. Ich war in Manila und
hatte nichts davon gesehen. Ich nahm mir seit dem Tag vor, irgendwann nach Manila zurückzukommen und mir die Stadt anzusehen.
Nach zwei Tagen brachte ein Mitarbeiter von UNHCR uns zum Flughafen. Erst am Eingang der Abflughalle übergab er uns unsere
Reisepässe. Sicherlich damit wir keine Gelegenheit bekamen, Unfug zu treiben, z.B. die Pässe verkaufen oder Plätze tauschen.
Dann sah ich diesen seltsamen Gesichtsausdruck wieder, was mein Vater damals hatte, nachdem wir auf die Cap Anamur kletterten.
Auf einem DC 10 der Flughansa flogen wir in die neue Heimat. Wie ich das nach so lange Zeit das noch wüsste? Der Flug dauerte
11 Stunden + 2 Stunden Aufenthalt in New Delhi. Da hatte ich eine Menge Zeit um die Magazine und Prospekte zu lesen, was vor
mir in der Sitztasche befand. Als eine Stewardess mich fragte:“ Would you like something to drinks?”nahm ich all meinen Mut
zusammen und antwortete:” Nein danke. Ich möchte jetzt noch nichts.“ Meine ersten Wörter auf Deutsch außerhalb des
Deutschunterrichts von Günther. Die Frau blickte kurz erstaunt, hatte mich aber anscheinend verstanden, lächelte
freundlich:“ OK. Dann vielleicht später.“ Ich war so stolz und dankte innerlich meinem Deutschlehrer. Von jetzt an könnte
gar nichts mehr schief gehen. Ich war auf alles gefasst. Was sollte uns nach diese Reise außer dem Weltuntergang noch
schocken können?
Am 01.September 1981verließen wir Vietnam in einem kleinen Boot. Am 10. November 1982 stiegen wir aus dem Flugzeug
in Frankfurter Flughafen. Es war eine lange beschwerliche aber auch abenteuerliche Reise, die mich mein ganzes Leben prägte.
Es klingt vielleicht abgedroschen wenn ich sage, diese Erfahrung will ich für nichts auf der Welt missen aber hoffe inständig,
dass ich sie nicht noch mal durchlaufen muss. Anderen Vätern reicht es, mit ihren Söhnen zu zelten oder angeln zu gehen.
Mein Vater musste gleich maßlos übertreiben.
Puhhh. Erstmal Luft holen. Das war eine Geschichte was?
Nach zwei Jahren holte Papa meine Mutter und meine vier Geschwistern nach Deutschland. Ich muss gar nicht beschreiben,
wie groß die Freude war, sie alle wieder zu sehen. Nur die Lücke, die die Zeit und unsere Erlebnisse uns trennten, war nie
wieder gefüllt. Ich war nicht mehr der kleine Junge wie Mama mich in Erinnerung kannte. Meine Geschwister brachten mir
immer noch den gleichen Respekt wie früher entgegen aber ich konnte mit ihnen nichts mehr anfangen. Nicht dass wir uns
nicht mehr lieben aber so ein nahloser Übergang als ob nichts gewesen wäre, wurde es nicht. Sie waren mir irgendwie fremd
und ich ihnen vielleicht auch. Warum erzähle ich euch das? Trennt euch nicht von euere Familie wenn es nicht unbedingt sein muss.
Nach weiteren zwei Jahren durfte Oma auch zu uns wenn wir der deutschen Behörde versicherten, selbst für Oma zu sorgen
und sie nicht das Sozialsystem belastete. Der Deal auf der vietnamesischen Seite war, unsere Eigentumswohnung gegen die
Ausreisegenehmigung.
Der Flüchtlingsjunge von damals ist heute mit einer Deutsch-Türkin verheiratet, hat einen dreijährigen Sohn nachdem wir uns
die Welt angesehen haben. Wir waren in den Cheops Pyramide, in New York, Niagara Wasserfälle, Paris, Venedig, Angkor Wat,
kreuz und quer durch Vietnam gereist…Ok genug der Angeberei. Ich besitze einen Open Water Diver Brevet, fahre Motorrad…
kurz um führe einen Leben wie ich in meinem wildesten Träume nicht gewagt hätten. Dieses geschenkte Leben möchte ich auf
keinem Fall vergeuden. Ich bin nicht reich, besitze auch keinen akademischen Titel. Alles was ich mir in Deutschland erreiche,
schaffe ich mit harter Arbeit, Fleiß und Genügsamkeit. Wir drei wohnen seit fast zwei Jahren in unserem Haus mit Garten, Garage
und einem Zaun rum. Das übliche halt. Wenn ich eine abgetrennte Wohnung im Haus samt eigene Küche und Bad fertig renoviere,
wird meine Mutter zu mir ziehen. Sie hat so ihre Ansprüche. Mit einem Zimmer konnte ich sie nicht locken.
Papa erlag seinem Krebsleiden Anfang 2009. Als er in der Onkologie lag, hatte ich viel Zeit mit ihm zu reden. Ich erfuhr viele Dinge,
die er mir bis dato nie gesagt hat. Viele Geschichte über unsere Familie, über die schwere Zeit nach dem Krieg…Als ich ihn fragte,
ob er Angst vor dem Tod hat, meinte er:“ Ich habe den Krieg überlebt, die Flucht überlebt. Was soll mir jetzt noch Angst machen?“.
Bis zur letzten Sekunde hatte Papa trotz seinen Schmerzen nicht gejammert. Habe ich auch nicht von ihm erwartet. Mein Papa halt.
Ich hatte das riesige Glück, bei meinem Vater am Bett zu sein als er uns verließ. Auf seine letzte Reise.
Die Freundin von Xuan kam ein Jahr nach Mama auch nach Deutschland. Die beiden haben zwei Kinder. Der ältere Junge studiert im
Moment BWL, die Tochter arbeitet als Arzthelferin.
Die Familie haben noch mit uns letzte Sylvester zusammen in meinem Haus gefeiert.
Die Cap Anamur hatte auf ihre Mission 11 000 Flüchtlinge gerettet. Ein Tropfen auf den heißen Stein im Vergleich zu den Massen der
Flüchtlinge damals. Die meisten von ihnen hätten hochwahrscheinlich ohne das Rettungsschiff nicht überlebt. Daraus sind heute nach
meinem letzten Wissenstand ca 60 000 geworden. Natürlich sind ein Paar Spinner, Loser, Kriminelle darunter. Aber wo gibt es so was
nicht. Die meisten Flüchtlinge die ich kenne sind anständige Bürger mit sehr hohem Anteil von Eigenheimbesitzer. Von uns fünf
Geschwister haben zwei eigene Häuser und ein eine Eigentumswohnung. Fast jede zweite meiner ehemaligen Freunde aus den Camps
bewohnen ihre eigenen Häuser. Faule Marotzer, die auf das soziales Netz sich bequem machen sind wir definitiv nicht.
Zum Abschluss möchte ich, wie es üblich ist bei der Oskarverleihung :grosses Lachen:, mich bei Herrn Rupert Neudeck, seine Organisation Cap Anamur
und deren Spender für unsere Rettung, bei den Mitarbeitern der UNHCR die um uns auf den Philippinen gekümmert hatten, das
philippinische Volk, das uns eine Zwischenstation bot und natürlich unser neue Heimat Deutschland das uns mit offenen Armen
aufgenommen hat, von ganzen Herzen bedanken.
Und auch an euch allen, die so viel Interesse an meine Geschichte gezeigt habt, ein dickes Danke schön.