Beiträge von leonardo

    Der letzte Tag auf der Cap Anamur

    Da einiges an Formalitäten erledigen musste setzte die Cap Anamur vor dem Hafen der Stadt Puerto Princessa
    seinen Anker. Die Schiffsmannschaft und wir veranstalten eine Art Zusammenkunft am Abend bevor wir das Schiff
    verließen. Jemand hatte eine Gitarre von den Matrosen geliehen. Einige gaben vietnamesischen Liedern zum Besten.
    Am Ende versuchten mehrere von uns, uns bei der Mannschaft zu bedanken. Ich betone extra auf “versuchten“
    weil man eigentlich gar keine passende Wörter dafür fand, um sich bei jemandem zu bedanken, der einem das
    Leben gerettet hatte. Schon komisch. Für jeden Pickel gibt es einen schönklingenden lateinischen Namen aber
    ein passendes Wort als Dank fürs Lebensretten existiert in keiner Sprache. Sechs hundert fünf und neunzig Menschen
    auf dem Oberdeck. Muttern mit ihren Säuglinge, Vätern mit Söhnen, Schwester, Bruder, Familie…alle hatten geweint
    oder zumindest feuchte Augen.


    Der Mannschaft erging es auch nicht besser. Geweint hatten sie fast alle obwohl sie sicherlich nicht zum ersten Mal
    solchen Abschied erlebten.



    3.Kapitel.

    Die Zeit im Camp




    Am nächsten Morgen packte ich unser Hab und Gut zusammen. Handtuch, Zahnbürste, Zahncreme. Das war’s. Dann setzte
    ich nach einem Monat meine Füße auf festen Boden. Die ersten paar Minuten kam es mir vor, als ob der Boden schaukelte.
    Mein Gehirn hatte die Schaukelei auf dem Schiff angepasst und täuschte mir diese immer noch vor.

    Wir stiegen auf einem Kipplader, also ein kleines LKW mit kippbarer Ladefläche, und wurden ins Flüchtlingslager gefahren.
    Als wir durch das Tor fuhren, liefen mehrere Leute neben den LKW und riefen uns zu: Wo kommt ihr her? Jemand aus dem
    10. Bezirk? Jemand aus …? Es ging so hektisch zu wie in einem Ameisenhaufen. Es waren so viele Menschen vor uns schon hier.
    So hatte ich mir es nicht vorgestellt. Ich dachte als man uns auf der Cap Anamur von dem Camp erzählte, es lebten vielleicht
    ein bis zwei hundert dort. Aber es waren achtzehn tausend Menschen.



    Ein paar Fakten zu der Flüchtlingslager Palawan.
    Koordinaten: https://maps.google.com/maps/m…22713,0.038581&dg=feature
    Das Camp existiert 1979 bis 1993, gegründet von UNHCR (United Nations High Commissioner for Refugees ). Größe zu meiner
    Zeit etwa 1,5 km lang, 500 m breit. Es lebten je nach Fluchtuation bis zu 18 000 Menschen im Camp. Insgesamt sollten bis zu 50 000
    sich hier aufgehalten haben.



    Wir bekamen einen Code für unsere Gruppe. 4/72/695 Cap Anamur. Das 4. Boot mit 72 Menschen an Bord von 695 gerettete der
    Cap Anamur. Wären wir z.B. in Subic Bay gestrandet mit 45 Menschen an Bord würden wir den Code 45 Subic Bay bekommen.


    Alles klar so weit?

    Einen gelben Zettel als Ausweis, eine Strohmatte als Unterlage, eine dünne Decke, eine Unterhose, einen Topf, Geschirr und
    Besteck erhalten jeder von uns. Dann mussten wir zur Check-In Untersuchung. Das lief so ab, dass wir durch ein Zelt in zwei
    Reihen marschierten und einige philippinische Männer in Zivil uns kurz betrachteten und uns weiter schickten.


    Mit der Ausrüstung unterm Arm standen mein Vater und ich ratlos vor dem chaotischen Durcheinander der Menschenmassen.
    Niemand hatte danach um uns gekümmert. Wir wussten nicht wo wir hin sollten, wo wir schlafen konnten. Unter dem Vordach
    einer der größeren Gebäude fanden wir etwas Schutz vor der Sonne. Papa lief noch eine Weile herum um einen Schlafplatz zu
    suchen, fand den leider nicht. Überall lagen und saßen Leuten. War auch kein Wunder. Fast 700 auf einen Schlag. Wie sollte
    man sich so schnell alles organisieren können.


    Wir beschlossen erstmal da zu bleiben wo wir waren. Als die Nacht einbrach schlugen wir unser Nachtlager unter dem Vordach auf.
    Zu unserem Glück fing es auch noch an zu regnen. :traurig:
    Ich war sooo Müde. Nicht nur körperlich sondern auch seelisch. Nach all den Strapazen der Fluch, den spartanischen
    Lebensbedingung auf dem Schiff und dann auch noch das. Ich riss mich die ganze Zeit zusammen um nicht zu jammern, um alles
    auszuhalten, aber das kostet Kraft. Die Kraft die mir jetzt auszugehen schien. Ich zog mir die, mittlerweile nasse Decke, über
    dem Kopf und weinte leise vor mich hin damit Papa es nicht mitkriegte.

    Der Alltag auf dem Schiff verlief naturgemäß nicht all so abwechslungsreich. Außer essen, schlafen und
    auf dem Meer schauen hatten wir nichts zu tun. Zu Essen gab es gekochten Reis mit Gemüse und Fleisch
    aus Konservendosen. Trotz der kargen Lebensbedingung in dem stählernen Schiff fühlte ich mich geborgen
    und frei. Wenn es nicht grad regnet lag ich gern auf dem Bauch ganz vorn am Schiff, so ungefähr da wo
    Rose und Jake auf der Titanic standen, und schaute mir die Delphinen an, die mit dem Schiff um die Wette
    schwimmen oder Schwärme von fliegenden Fischen. Eigentlich segelten sie nur ein Stück übers Wasser.
    Es sah trotzdem sehr spektakulär aus.
    Ein Mal flüsterte mir ein anderer Junge zu, ich sollte leise sein und mitkommen. Wir kletterten über den
    Duschraum auf ein Gewirr von Röhren. Jemand hatte zwei Holzplatten darauf gelegt, so dass wir uns
    hinlegen und einen diskreten Blick runter auf die Damendusche werfen konnten. :staun:
    Tja. Was man alles macht wenn der Tag lang ist! :face_with_rolling_eyes:


    Es bildeten sich öfter kleine Grüppchen von Menschen, die sich unterhielten, ihre eigene Erlebnisse erzählten,
    über den sch****** Kommunisten lästerten. Es war eine Atmosphäre wie auf einem Musikfestival am Abend
    nach den Konzerten.
    Die einzige Abwechslung war wenn mal wieder ein Flüchtlingsboot entdeckt wurde. Dann mussten alle runter
    bis auf einige starke Männer, die sich freiwillig meldete, bei der Rettungsaktion zu helfen. Mal fischten wir
    jeden Tag ein neues Boot, mal wochenlang gar kein. Bei manchen Booten waren die Menschen noch fit, bei
    anderen musste man sie tragen da sie nicht mehr selbst laufen konnten. Ich wage es gar nicht dran zu denken,
    wie viele Boote durchgeschlüpft und nicht entdeckt worden waren. Die Cap Anamur füllte sich nach und nach.
    Ich glaube, 4 Boote wurden auf dem Schiff gehoben, um später an die Philippinos zu verschenken.


    Es war Mitte September. Das Herbstwetter zwang uns öfter, unter Deck zu bleiben. Der See war manchmal so
    stürmisch, dass viele seekrank wurden. Trotzdem konnten 15 Booten gerettet werden. Die Rettung von dem
    15.Boot war sehr dramatisch. Das Boot war in sehr gutem Zustand und hochseetauglich, wurde aber von der
    Küstenwache entdeckt und bis weit ins offene Meer verfolgt. Ich konnte Schüsse hören als wir alle panisch in
    den Laderaum verkrochen. Die Cap Anamur versuchte, zwischen den Verfolger und die Gejagten zu manövrieren.
    Es dauerte eine halbe Ewigkeit bis das Schiff von der Küstenwache endlich aufgab.


    Ein Flüchtling wurde angeschossen und musste operiert werden. Auf dem Zwischendeck spannte man Bettlaken
    zu einem improvisierten OP-Raum. Die deutschen Ärzte trugen unter ihrem durchgeschwitzten Kittel kurze Hosen
    und T-Shirts als sie dem verletzten die Kugeln entfernten. Hätte ich in dem Moment eine Kamera wäre mir der
    Pulitzer Preis sicher.


    Es wurde ziemlich voll auf dem Schiff. 15 Boote mit 695 Menschen gerettet. Sogar in einem Monat im Herbst,
    wo das Wetter richtig schlimm war. Eines Tages stand ich in der Schlange an fürs Essen. Von weitem sah ich eine
    große Welle anrollen. Was soll’s, dachte ich mir, wir sind auf einem Frachtschiff, da wo ich stand war das Schiff
    sicherlich 9m hoch, bis die Welle komplett über uns schwappte. Alle brachen in Panik aus. Ich war pitschenass.
    Zum Glück war außer ein kleiner Schock nichts Schlimmes passiert. Wie viele Boote wie unser mag solch eine
    Welle wie diese schon versenkt haben?


    Aus mir unbekannten Grund macht das Schiff vor Singapur für ein Paar Tagen halt. Das Schiff war so nah am Hafen,
    dass wir die fahrenden Autos sehen konnten, hatte aber nicht angelegt. Bestimmt damit niemand unerlaubt von
    Bord gehen konnte. Von weitem blieb mir nichts anderes übrig als nur sehnsüchtig die Skylines zu bewundern.



    Die Mannschaft der Cap Anamur entschied gegen Ende des Monats sich dafür, die Philippinen anzusteuern.
    Das Schiff war hoffnungslos überfüllt. Der Verletzte musste in einem Krankenhaus versorgt werden.
    Der hygienische Zustand auf dem Schiff artete zu einer Katastrophe aus. Fast 700 Menschen. 2 Toiletten.
    Jeweils ein Duschraum für Frauen und Männer. Es konnte nie und nimmer gut gehen. Vor den 2 Kabinen
    bildeten sich Warteschlangen, die Tag und Nacht nicht endeten. Es wurde überall uriniert, wo es nicht direkt auffiel.
    Der Gestank von Erbrochenes lag in der Luft. Die Raucher hatte es richtig schwer. Am Anfang konnten sie noch
    ein paar Kippen von den Matrosen schnorren. Irgendwann wurde es denen aber auch zu bunt. Da hatte ich zum
    ersten Mal gemerkt, wie aggressiv Raucher unter Entzug sein konnte.


    Also nach gut einem Monat hieß es wieder „Land in Sicht“.

    Es war schon ein sehr eigenartiges Gefühl, den Tod von der Schippe gesprungen zu sein.
    Es war nicht allein ein Glückgefühl. Damals auf der Cap Anamur hatte ich neben diesem
    Glückgefühl auch noch etwas wie Reue empfunden. Reue dass ich bis dato das Leben als
    selbstverständlich gehalten hatte. Reue dass ich mich um die Menschen, die mir am Herzen
    lagen nicht genug gekümmert hatte.


    Ja. Wir hatten überlebt. Wir werden auch irgendwann sterben. Aber nicht jetzt, nicht heute.
    Wir bekamen eine zweite Chance, dank den Menschen, die uns vorher nicht kannten, denen
    wir nie was Gutes tun konnten und trotzdem ihre Zeit und Geld geopfert hatten, um uns zu retten.


    Genug der Gefühlsduselei. Zurück zur Realität.
    Wir bekamen Seife und Handtücher verteilt. Die Schüssel, mit dem wir Tee getrunken hatten
    dürften wir behalten. Kurze Anweisung, wo was sich auf dem schiff befindet und wir konnten
    uns einen Platz im Laderaum aussuchen. Vor uns waren schon fast 100 andere Flüchtlinge an
    Bord gekommen. In dem riesigen, leeren Frachtraum fanden alle noch reichlich Platz. Damit
    wir nicht auf dem harten, kalten Metallboden liegen mussten, stellte man uns Sperrholzplatten
    zur Verfügung. Ich schnappte mir zwei Stück und platzierte sie strategisch günstig an der vorderen
    Wand damit niemand an uns vorbei laufen müsste.


    Die Cap Anamur war ursprünglich ein Frachter. Da sie leer fuhr, hob sich ihr delphinartiger Bug übers
    Wasser, was für die Hydrodynamik nicht so optimal war. Als Einrichtung gab es außer den Holzlatten
    nichts. In der Mitte des Schiffes auf dem Oberdeck hatte man sich eine provisorische Küche eingerichtet.
    Es gab drei große Gaskocher, paar große Töpfer, zwei Tische als Abgrenzung und Ausschanktheke.
    Die Dusche ganz vorn am Bug teilte man mit einem Trennwand Männlein von Weiblein. Es gab nur
    Meerwasser zum Waschen. Habt ihr gewusst, dass Seife im Salzwasser nicht schäumt? Ich vorher
    auch nicht. Nach dem Duschen hatte ich eine dünne Salzkruste auf der Haut und die Haare fühlten
    sich irgendwie hart an. Aber ich war wieder sauber und fühlte mich wie neugeboren auch wenn ich
    meinen Schuluniform, was ich schon von Anfang der Reise anhatte, wieder anziehen musste. Die Sachen
    hatte ich zwar so gut es ging gewaschen. Mein weißes Hemd war nun grau mit schwarzen Flecken.
    Die lange Hose und mein Boxershorts wurden abwechselnd gewaschen und getrocknet.


    Am Steuerbord (für die Landratte unter euch: rechte Seite) wurden zwei Blechkabinen als Toilette
    umgebaut. Wie zwei Dixi Klo mit jeweils einem Rohr, das außen entlang des Schiffes nach unten
    direkt ins Meer führte. Diese Konstruktion hatte den Vorteil, dass jeder mit bekam, was man gerade
    an die Fische fütterte.


    Unser Boot hatte man, als wir die Begrüßung und Einweisung verfolgten, einfach versenkt.
    Nur die guten boote wurden auf dem Deck mit dem Schiffkran gehievt. Unser war schrottreif.
    Schade. Ich hätte gern noch einen letzten Blick darauf geworfen.

    Das Schiff fuhr knapp an der Grenze zu vietnamesischen Gewässer rauf und runter. Die Chance in
    dem riesigen Areal auf ein Flüchtlingsboot zu stoßen war so groß, hatte ein deutsche Journalist sehr
    treffend formuliert, als ob jemand von einem Hochhaus sprang und hoffte, auf einem Sprungstuch zu
    landen, das von Feuerwehrmänner unten im Laufsschritt hin und her getragen wurde. Die Sicht betrug
    selbst bei gutem Wetter am Tag keine 10 km. Mit bloßen Augen würde ich sowieso kein dunkles
    Holzboot erkennen, welches gerade eine Armlänge aus dem Wasser ragte. Und das war keine Übertreibung.
    Die Leute von unserem Boot, die im Meer geschwommen waren, konnten mit ausgestrecktem Arm wieder
    ins Boot klettern. Als wir gerettet wurden, war das Meer richtig rau. Dass man uns überhaupt gefunden hatte,
    grenzte schon an Wunder. Wäre der Motor ein paar Stunden früher oder später kaputt gegangen, hätten wir
    die Cap Anamur verpasst. Wir wären alle nach 2-3 Tagen verdurstet wenn nicht schon vorher eine große
    Welle unser Boot versenkte. Nur der Zufall entschied zwischen Leben und Tod von 72 Menschen.

    Die meisten Vietnamesen, die nicht zu einer der Weltreligion angehören, glauben daran, wenn man stirbt,
    trifft man seine Vorfahren, seine Ahnen, die sein Leben beobachten, bewerten und im Notfall auch eingreifen,
    auf der anderen Seite wieder. So wie in dem Disney Film „Mulan“.


    In meiner Verzweiflung betete ich an meine Ahnen, wenn sie uns retten wollten, dann bitte jetzt. Die letzten
    Kokosnüsse wurden aufgemacht. Erst die Kinder, dann die Frauen tranken davon. Natürlich schwitzten wir
    viel in der Hitze, hatten kaum etwas gegessen aber dass schon nach drei Tagen auf dem Meer wir alle so
    fix und fertig waren hatte ich nicht gedacht.


    Was für ein Glück, dass kein von meiner Geschwister dabei waren. Ich konnte es niemals ertragen, sie so
    leiden zu sehen.


    Papa diskutierte mit anderen Männern über möglichen Optionen. Viel Auswahl hatten wir ja nicht. Paddeln
    ging nicht. Schon zu weit von Küste. Funkgeräte waren nicht an Bord. Wen sollten wir auch um Hilfe rufen.
    Die Küstenwache? Die thailändischen Piraten *?


    (*Diese waren kein richtigen Piraten sondern Fischer, die die wehrlose Lage der Flüchtlinge ausnutzten.
    Es gab richtige Horrorgeschichte darüber aber ich beschränke mich hier, nur meine eigenen Erlebnisse zu
    berichten. Außer zwei Ausnahmen. Aber dazu später.)


    Die Bewegungsmangel auf dem kleinen überfüllten Boot forderte ihren Tribut. Ich konnte mich nur mit
    viel Mühe fortbewegen. Mir taten alle Knochen weh. Mein Schädel pochte die ganze Zeit. Den anderen
    ging es auch nicht besser. Aber gejammert wurde es kaum außer den kleineren Kindern. So wurden wir
    alle nun mal erzogen.


    Es war Anfang Herbst. Wir hatten die ersten Tage Glück, dass das Meer ruhig war. Am vierten Tag frischte
    der Wind auf und unser kleines Boot hüpfte heftig auf die Wellen. Für Hochseefahrten war es sowieso nicht
    gebaut. Außerdem ohne Antrieb konnte man es nicht auf die Wellen zusteuern. Wenn wir quer zu den Wellen
    treiben, schaukelte das Boot gefährlich zur Seite so dass Wasser rüber schwappte.

    Es war’s wohl. Ich hatte nicht sooo viel Angst vor dem Tod. Aber mit 14 war es etwas früh zu sterben. Und
    erst recht nicht so. Ich hatte immer gehofft, einen glorreichen Abgang zu haben. Mit vollen Montur und
    Waffen in der Hand. Wie der legendäre Dian Wei http://de.wikipedia.org/wiki/Dian_Wei. Auf dem Meer
    zu verdursten oder ertrunken war wirklich uncool.


    Papa sagte nichts. Ich wusste aber, er machte sich noch mehr sorgen als ich. Was wurde aus seiner Familie?
    Niemand wurde je erfahren, was mit uns beiden geschah. Mama müsste mit der Ungewissheit für immer
    weiter leben. Ich legte mir zurecht, was ich ihm sagen sollte, wenn der richtige Moment kam. Es ist nicht
    deine Schuld Papa. Du hast alles richtig gemacht. Ich hätte in deiner Stelle genau so gehandelt. Wenn wir
    diesmal nicht versucht hätte vielleicht hätten wir es nie. Ich bin kein Kind mehr. Ich weiß genau, worauf
    wir uns eingelassen haben. Wir haben nichts getan, wofür wir uns vor unseren Ahnen schämen müssen.
    Mama ist schlau. Die schafft es auch ohne uns.

    Im tiefsten Moment der Verzweiflung hörte ich jemand schreien: “Ein Schiff, ein Schiff, ein großes Schiff!“
    Wer sich noch bewegen konnte, versuchte aufs Deck zu klettern. Ich sah aus der Ferne tatsächlich ein
    großes Schiff mit hohen gelben Masten, das direkt auf uns zu steuerte. Das erste Schiff seit wir das Land
    verlassen hatten. Freude und Angst mischten sich unter den aufgeregten Menschen an Bord. Es könnte auch
    ein russisches Schiff sein. Oder von Nord Korea. In dem Fall würden sie uns zurück nach Vietnam bringen.
    In Umerziehungslager, Gefängnis. Dann lieber auf dem Meer sterben. Als das Schiff nah genug war, dass
    wir seine Flagge sehen konnte, wusste niemand, zu welchem Land es gehörte. Schwarz, rot, gelb? Kein
    blassen Schimmer. Wir waren darauf fixiert, von einem Schiff mit Star- Spangled Banner gerettet zu werden.
    Aber schwarz rot gelb?


    Das Schiff holte uns schnell ein, drehte sich auf die Windseite um uns vor den Wellen zu schützen. Dann kam etwas,
    was wir nicht erwartet hatten: Jemand sprach durch ein Megaphon auf Vietnamesisch zu uns.


    Durch die allgemeine Aufregung, den lauten Wind, der Wellen die an das Grosse Schiff hämmerten, verstand ich
    fast nichts, was der Mann oben uns zu sagen versuchte. Nur was mit : „Deutschland… Rettungsschiff…Vietnam…
    “ Hmm Deutschland. Was war da noch mal. Ach ja ! Zweiter Weltkrieg. Hitler. „Der Längste Tag“ mit John Wayne
    an der Normandie. Die Mauer in Berlin…


    So viel ging mir grad durch den Kopf. Dann kam uns schon ein riesiges Netz aus dickem Seil entgegen. Zwei, drei
    Männer kletterten zu uns runter. Sie sahen asiatisch aus, hatten aber viel zu dunklen Haut. Come on! Hurry up please!
    Drängten sie uns an das Netz. Ein nach den anderen kletterten wir auf das große Schiff. Papa schob mich zu erst
    drauf und kam hinterher. Es kostete mich große Mühe, nicht vom Netz runter zu fallen. Mit letzter Kraft und
    zitternden Knien erreichte ich denn noch das Deck. Papa hielt mich mit einer Hand an Oberarm fest als wir weiter
    ins Schiff liefen. Er hatte so einen Ausdruck im Gesicht, den ich in meinem ganzen Leben nur zwei Mal bei ihm
    gesehen habe. Dies war das erste Mal.

    Die Frauen und Kleinkinder mussten nicht selber klettern. Ein Kran hob sie in mehreren kleinen Gruppen an Bord.
    Unten im Innern des Schiffes bekamen wir heißen, süßen Tee in einem braunen Plastikschüssel zum trinken. Nach
    all den Jahren habe ich nicht vergessen wir diesen einen Schluck süßen Tee geschmeckt hat. Wir Vietnamesen
    trinken den Tee nie mit Zucker. Und diese Sorte hatte ich definitiv vorher noch nie getrunken. Wenn ich meine
    Augen schließe sehe ich noch vor mir wie wir alle dreckig, stinkend, manche konnten nicht mehr stehen, mit
    zitternden Händen diese braune Schüssel entgegen nahmen. Dieses Moment der zweiten Geburt vergesse ich nie.
    Solange ich lebe.



    Der Vietnamese vom Schiff wartete, bis alle Getränke bekommen hatten. Dann klärte er uns auf. Dieses Schiff,
    die Cap Anamur, kam vom Bundesrepublik Deutschland, wurde mit Spende finanziert um vietnamesische Flüchtlinge
    zu helfen. Es kreuzte jeweils einen Monat auf das Südchinesischen Meer hin und her, fischte die Flüchtlinge auf und
    ließ die geretteten auf die Philippinen ans Land. Wir sind schon das vierte Boot in diesem Monat, das aufgesammelt
    wurde. Er selbst lebte schon seit langer Zeit in Deutschland. Nun hatte er sich freiwillig als Übersetzer gemeldet.
    Alle andere Deutsche auf dem Schiff waren Ärzte oder Krankenschwester, die unentgeltlich auf dem Schiff arbeiteten.
    Die Besatzung war, abgesehen von wenigen Ausnahmen, ausschließlich Phillipinos.

    Der Motor lief zwar noch, aber schon zu langsam, um das Wasser aus dem Boot abzupumpen.
    Im normalen Betrieb war es ja kein Problem, das eindringende Wasser mitsamt diversen Beilagen
    aus dem Boot zu entfernen. Nun stieg es immer höher, bis wir schließlich nassen Füßen bekamen.
    Alle Männer, die nicht seekrank waren müssten abwechselnd mit einem Eimer das Wasser aus
    dem Boot schöpfen. Ich wurde noch nicht als „Mann“ gezählt und musste das nicht machen.
    Hätte mir aber nicht ausgemacht.



    Die zwei je 200 L Fässer Wasser leerten sich beängstigen schnell. Kein Wunder bei 70 Personen
    und 35* C in Schatten. Was für Schatten? Hatten wir nirgends außer unten im Laderaum. Da
    schien zwar nicht die Sonne aber um einiges heißer als draußen.


    Da das Meer sehr ruhig war, hielt das Boot kurz an, damit wir uns im Meer abkühlen konnten.
    Viele sprangen ins Wasser und schwammen um das Boot herum. Für einen kurzen Moment hob
    sich die Stimmung. Ich zog mich auch bis die Unterhose aus, beugte mich über die Bootkante,
    und als ich in die unendliche Tiefe des Ozeans blickte, verließ mich der Mut.


    Ich konnte schon gut schwimmen, eine Selbstverständlichkeit wenn man am Mekong aufwuchs,
    aber ich hatte immer irgendwo eine Abgrenzung, einen Ufer wo ich mich orientieren konnte.
    Hier gab es weit und breit nichts zum festhalten außer diese winzige Nussschale auf dem riesigen
    Pazifik. Ich entschied mich doch dafür, nicht ins Wasser zu springen, obwohl es mir sicherlich
    gut getan hätte.



    Wir setzten unsere Reise fort. Eigentlich ließen wir uns von der Strömung nur treiben.
    Als die Nacht einbrach, blieb ich mit ein Paar Jungs oben. Wir beobachteten den wunderschönen Mond,
    die riesigen Flossen, die aus dem Wasser ragten, wenn wieder ein Riesenmonsterfisch an uns vorbei
    schwamm, erzählten Geistergeschichten, bis wir alle einschliefen.


    Plötzlich schrie jemand laut auf auf. Jemand war ins Meer gefallen. Der Steuermann stoppte den Motor
    und wir spähten in die Dunkelheit. Es gab noch nicht mal einen Suchscheinwerfer an Bord. Nach einigen
    Minuten hatte der verunglückte das Boot schwimmend eingeholt. Es war unser Navigator. Ganz hinten
    war das Klo, was eigentlich nur eine Kabine, die über Wasser hängte. Unten war offen und man hockte
    da auf zwei Balken. Der war vermutlich daraus gefallen.


    Am nächsten Tag war das Meer etwas rauer. Es nieselte ab und zu und zwang uns alle unter Deck zu bleiben.
    Jetzt empfing ich die Enge als sehr störend. Und überhaupt viele Dinge, die mir vorher gar nicht aufgefallen
    war, fingen an, mir auf den Nerven zu gehen. Wie dumm und unhöfflich manche sich benehmen. Besonders
    diese Clans von Sieben. Die spielten sich auf als ob wir ihnen die Flucht zu verdanken hätten. Sie verwalten
    den ganzen Vorrat. Zwar kriegen wir mehrmals am Tag Reis zu essen aber weiß der Geier was sie sonst
    noch vor uns versteckten. Wäre das Boot planmäßig gestartet, wären wir mit Sicherheit viel besser
    vorbereitet gewesen. Was für Ar*****cher! Hätte ich die Knarre von Papa hier wäre die Bande schon
    längst Futter für die Haie.



    Mein Magen schmerzte ein wenig. Einen Schluck Wasser hätte ich auch gern aber weil die beiden Fässer
    schon mehr als 2/3 leer waren, blieb nur noch trüber Schlamm. Selbst dann hatten Leute die Brühe trotzdem
    in den Schüssel gefüllt, gewartet, bis sich der Schlamm absetzte und davon tranken.


    Als wir abfuhren war es auch schon sehr hart. Aber die Aufregung und Euphorie ließ mich alles locker ertragen.
    Nun fühlte ich meinen leeren Magen, den Schmerz im Kopf, den trockenen Hals, die dreckigen Klamotten die
    seit drei Tagen an mir klebten.


    Die Säuglinge weinten kaum noch. Vielleicht hatten die keine Kraft mehr dafür. Viele der Frauen hatten in der
    erste Nacht sich nicht getraut, auf die Toilette zu gehen und pinkelten einfach in die Hose. Dementsprechend
    rochen sie jetzt auch wenn sie keine Wechselkleidung mitnahmen. Uns wurden untersagt, Gepäck mitzunehmen.
    Ersten aus Platzgründen. Zweitens um kein Verdacht unterwegs zu wecken. Ich wünschte, Papa hätte mir
    mindestens erlaubt, meine Schultasche mitzunehmen. Darin hatte ich Bücher, Stifte, etwas zu essen, noch ein
    Messer, meinen Steinschleuder und ein Holzknüppel mit einem Fangriemen dran. Wo zu ich das alles brauchte?
    Als Jungendliche kloppten wir uns oft. Meist endete es harmlos. Nur wenn die anderen in der Überzahl waren
    brauchte ich eben diese Dinge um das zu kompensieren.


    Leider lag meine Tasche zu Hause auf meinem Tisch. Hier steckte nur noch ein winzig kleines Klappmesserchen
    als Schlüsselanhänger in meiner Hosentasche. Ich braucht es eigentlich nur als Flaschenöffner da der Griff
    entsprechend geformt war. Die Klinge war höchsten 4 cm lang. Als Papa das mitkriegte nahm er das Messer an
    sich. Na ja was sollte man damit machen können dachte ich und übergab es ihm.


    Ich schlief tief und fest als Papa mich weckte. Er flüsterte.“ Hier trink das!“ Im Halbschlaf nahm ich eine Kokosnuss
    entgegen und trank einen Schluck davon. Wie hatte er die aufgekriegt? Dachte ich als mein Kopf klar wurde.
    Der 13. Also der Junge neben uns hatte in stundenlange Fummelarbeit mit meinem Minimesser ein Loch in die
    Kokosnuss gebohrt. Und wer schon mal einen Frischen Kokos in der Hand gehalten hatte, wusste dass es wahrlich
    alles andere als einfach war.

    Der nächste Tag brach an. Die Stimmung sank immer weiter. Es gab immer mehr Streit zwischen den Passagieren
    und der Mannschaft. Ich schloss meist die Augen und dachte an Zu Hause. An Mama. An meine Geschwister.
    An die leckeren Gerichte von Oma. An den Getränkestand vor meiner Schule wo ich immer Zuckerrohrsaft trank.
    An das Mädchen in meiner Klasse in das ich mich heimlich verliebte. Ich Idiot. Ich hätte es ihr sagen sollen.
    Nun war es zu spät. Ich nahm mir vor sollte ich das hier je überleben und zurückkommen werde ich es ihr sagen.


    Aber wie sollten wir es je schaffen? Der Motor lief immer unruhiger, obwohl er das Boot eh nicht vorwärts trieb.
    Das Wasser war schon am dritten Tag zu ende. Ohne Wasser konnten wir den Reis auch nicht kochen. Wenn es mal
    regnet, versuchten wir Wasser auf zu fangen. Aber ohne eine große Plane oder Regenrinne kamen wir nicht weit.
    Als die Erwachsenen zu müde waren, fingen die Jungendlichen an, das eindringende Wasser aus dem Boot zu schöpfen.


    Jedem war es klar. Sehr lang konnten wir das nicht durchhalten.





    Fortsetzung folgt.....




    Ich habe eine Skizze von unserem Boot gemacht. Ein mal Seitenansicht und Draufsicht.
    Zwar nicht ganz maßstabgetreut und die Propotionen könnte abweichen aber ungefähr so sah das Boot aus.
    Die Decke über den Laderaum bestand aus mehrehen Segmenten, die man einzeln ausklappen konnte.
    Ganzzzz hinten war das Klo :grosses Lachen:


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    Da nicht genug Geschirr zur Verfügung standen wurde abwechselt gegessen. Wenn jemand fertig war wuchs
    man den Schüssel mit Meerwasser ab und der nächste bekam ein paar Löffel gekochten Reis drauf. Die
    Stimmung war eigentlich gar nicht so übel. Ich lernte einige Mitreisende kennen. Gut ein Dutzend Jugendliche
    im meinem Alter waren auch an Bord. Wir unterhielten uns über Schule, wie viele von unseren Familien
    blieben noch zurück, wie viele misslungenen Fluchversuche schon hinter sich usw…


    Papa wollte aus guten Gründen nicht all zu viel von den Flusswasser trinken und öffnete mit meinem
    Klappmesser Kokosnüsse auf. Die anderen mochten natürlich auch lieber davon trinken. So machte
    mein Messer die Runde. Bis irgendwann der Meuterer, nennen wir den mal einfachheithalber der Sieben
    ( in VN ist es üblich, nicht direkt den Namen der Person anzureden sondern die Rangfolge. Sieben war also
    das sechste Kind in seiner Familie. Und wer ist die Nummer eins? Es gibt kein. Damit der Teufel nicht das
    erstgeborene Kind weg nimmt nennt man das erste Kind Nummer zwei. Ich bin also die Nummer zwei.
    Mein Bruder die drei…) das Messer an sich nahm. Als ich ihn danach fragte meinte er, er habe es leider
    ins Wasser fallen lassen. So blöd war ich nicht um zu wissen, dass er nur die Kontrolle über den Kokosvorrat
    behalten wollte und mein Messer versteckte. Das erzählte ich meinem Vater aber er zog es vor, deswegen
    sich nicht mit Sieben und seinen zehn männlichen Verwandtschaften anzulegen.


    Merkt euch es gut: benutzt euere Ausrüstung möglichst verdeckt und gebt diese niemals aus der Hand!
    Egal an wen! Für diese Lektion habe ich teuer bezahlt. :banghead: Mein einziger wertvoller Besitz.


    Nach der lange Nacht unten im Laderaum genoss ich die frische Meerluft und den atemberaubenden Anblick
    des endlosen Ozeans. Leider schien zum Mittag die Sonne gnadenlos auf uns runter. Auf dem Boot hatten wir
    nirgends Schutz außer hinter dem Steuerkabine. Da befand sich unglücklicherweise auch der Motor. Es stank
    der Maßen nach Diesel das niemand sich lange dort aufhalten konnte.


    So setzte ich mich zurück an meinen Platz und versuchte etwas Schlaf nachzuholen. Neben uns saß ein Junge,
    den sich als 13 :grosses Lachen: vorstellte( kein Witz. Der nannte sich wirklich so). Der war 2-3 Jahre älter als ich und ganz
    allein auf dem Boot. Vielleicht hatte seine Familie nicht genug Geld um noch jemanden mit ihm auf die Reise zu
    schicken. Ich war doch halt froh, dass wir zu zwei waren.


    Ich wusste nicht mehr wie lange ich geschlafen hatte als ein Höllenlärm mich aus dem Schlaf riss. Jemand
    brüllte alle sollten sich hinsetzen sonst kippte das Boot um. Das Motorengeräusch, das uns seit der Abfahrt
    begleitete war weg. Ich spähte in die Kabine aber konnte nichts erkennen. Einige Männer gingen dahin,
    diskutierten wieder lautstark. Ich hörte Werkzeuge klimpern. Der Motor sprang kurz an, aber wenn der
    Steuermann Gas gab, schüttelte und rüttelte er, als ob er genug von uns hatte und ins Meer springen wollte.


    Wieder Werkzeug klimpern, lautes fluchen, Hämmern aufs Metal…aber es nützte nichts.
    Der verfixte Motor lief nur im Leerlauf. Sobald man ihn beschleunigte rüttelte er das ganze Schiff durch.
    Damals hatte ich natürlich keine Ahnung von der Materie. Heute als Mechaniker weiß ich, das Schwungsrad
    hatte einen Knack bekommen, womöglich durch die Kollision mit dem fest gespannten Fischernetz oder
    vielleicht schon vorher, und ein oder mehrere Befestigungsbolzen waren gerissen. Man müsste die defekten
    Bolzen entfernen und die Restlichen jeweils paarweise gegenüber festschrauben, so dass es wieder gleichmäßig
    wuchtete. Meine Erkenntnis kam leider zu spät und die anderen waren damals einfach zu doof dafür. So lief
    der Motor ab jetzt nur im Leerlauf um mindestens die Wasserpumpe anzutreiben, die das Wasser aus dem
    Boot pumpt und auch wenn die Propeller sich langsam drehte, das Boot zu mindest steuerbar blieb.


    Die gute Stimmung wurde natürlich von nun an sehr gedämpft. Auch wenn die Besatzung weiter an das
    Problem bastelte, kroch in mir langsam der Zweifel, dass wir jemals irgendwo ankommen würden.


    Bevor wir mit den ersten Fluchversuchen begannen, studierte ich hunderten Mal die Landkarte von
    Südchinesischen Meer. Die kürzeste Strecke in die Freiheit war in Richtung Thailand zu fahren. Einfach
    nach Süden, dann einen großen Bogen um Ca Mau, unser südlichsten Punkt in den Golf von Thailand.
    Sonst geradeaus ca 1000 km bis man Malaysia, Indonesien oder Singapur erreichte. Nach Osten könnte
    man bis auf die Philippinen schaffen, wenn man einen guten Navigator hätte. Den hatten wir aber nicht.
    Und nun auch keinen Motor, kaum Vorräte und viel zu viele Menschen an Bord.

    Die ganze Nacht fuhr das Schiff ins offene Meer hinaus. Da auf so einem kleinen Transportschiff üblicherweise
    nicht mehr als 4-5 Mann arbeiteten, dürften wir nicht an Deck gehen, so lange wir noch nicht weit genug von
    der Küste entfernt haben. Sonst könnten anderen Schiffe uns sehen und Verdacht schöpfen. Die Küstenwache
    verfügen noch genug Schnellboote aus dem Bestand der Amerikaner. Die hätten uns ohne Probleme eingeholt.


    Es roch nach Schweiß, Erbrochenen, Diesel, Urin und anderen undefinierbaren Gerüche. Außerdem wurde der
    Sauerstoff knapp. Alles zusammen plus das ständiges Geschaukel und das monotones Motorgeräusch versetzte
    mich in so eine Art Dämmerzustand. Ich knicke kurz ein und war wieder wach.


    Das Boot war wie alle Boote in Vietnam aus Holz gebaut. Ganz wasserdicht waren sie nie. Etwas Wasser war
    immer im Boot drin. Wenn der Motor lief, trieb er auch die Wasserpumpe mit an. Da wir nicht direkt auf dem
    Schiffsboden saßen, sondern auf einem Zwischenboden aus Brettern, wurden wir zwar nicht nass. Aber das
    Wasser unter uns schwappte mit dem Wellen hin und her, wirbelte das Gemisch von Kotze und Urin gut
    durch so dass alles schön über die ganze Bootlänge verteilt war. Ob man sich übergeben hatte oder nicht,
    den beißenden Gestank stieg immer unter einem hoch. So hockten wir eingepfercht und warteten auf den Morgen.

    Interessanteweise fand ich, egal wie besch****** es sich anhört, die Situation gar nicht soooo schlimm.
    Wo es vorbei war, war es auch vergessen. Ich litt nicht unter einem Trauma oder so.


    Selbst mit 14 wusste ich, dass die Freiheit nicht gratis zu haben war. Ich glaube, genau deswegen könnten
    die Frauen die Schmerzen bei der Geburt ertragen. Eben der Preis, den man bereit war, für etwas Wunderbares
    zu bezahlen


    Als der Morgen anbrach, dürften wir an Oberdeck gehen, natürlich nur die, die noch gehen konnte. Die
    meisten waren Seekrank. Ich dankte innerlich meine Eltern für die Antiseekrank-Gene, die ich von ihnen
    geerbt habe. Das Dach von dem Laderaum wurde zur Hälfte geöffnet um den Leuten, die unten blieben,
    frische Luft zuzufügen.
    Ich stieg nach oben und bekam einen kleinen Schock: Wasser. Überall Wasser. Vorne, hinten, rechts und
    links wo ich hinschaute. Nur Wasser. Ich war als Kind sehr oft am Strand aber so weit hinaus aufs Meer war ich noch nie.


    Einige Männer gingen in die Steuerkabine und diskutierten lautstark. Papa war auch dabei.
    Danach war das Ausmaß der Katastrophe sichtbar. Statt der geplanten 30-40 Passagiere waren 70 Menschen
    plus 2 Säuglinge im Boot. Auf ein 12 m langes Boot. Allein der Mann, der das Boot geklaut hatte, nahm mehr
    als ein Dutzend von seiner Familie mit. Da es eine Meuterei war hatten die Typen kein Geld für Vorräte. Noch
    nicht mal für Trinkwasser. Sie hatten einfach Wasser aus dem Fluss in zwei Fässer gefüllt. Ungereinigt. In den
    Vorraum vom Boot waren Kokosnüsse gelagert. Paar Säcke Reis und Gasflaschen zum Kochen. Das war’s.


    Der Typ, der angeblich in der Marine gedient hatte und uns ins sichere Hafen navigieren sollte sah so aus,
    als ob er noch nicht mal sein eigenes Ar******ch im dunkel finden würde.


    Zum Glück war das Meer ziemlich ruhig. Zurück könnten wir nicht mehr also das Beste draus machen. Reis wurde
    gekocht, Wasser verteilt. In der Schüssel, worin das Wasser rumgereicht wurde, sah ich noch den Schlamm vom
    Mekong. Ja Klasse! In den Fluss wurde gebadet, geschissen, Müll entsorgt, alles Mögliche gewaschen, Dünger und
    Insektizide aus den Feldern mitgenommen… Na dann Prost! :drinks:

    Mein Vater musste sehrverzweifelt gewesen sein um so einen hohen Preis für diese Chance zur Flucht zu bezahlen.
    Seine Integrität. Verhinderte er die Meuterei, war es ungewiss, ob dieses Boot jemals wieder startete.
    Höchstwahrscheinlich nicht, da die halbe Mannschaft danach fehlte und jemand aus Rache das Vorhaben bei
    den Behörden anzeigen würde.


    Wir stiegen schon am nächsten Tag in ein kleines Boot als es dunkel wurde. Die jüngere Schwester von dem
    Steuermann, etwa 2 Jahre älter als ich, ruderte das Boot den Fluss entlang Richtung Meer. Im Boot saßen der
    Steuermann, seine Frau, noch eine Schwester von ihm, Papa und ich. Dann endlich kam das Schiff, was
    eigentlich nur ein etwas größeres Boot war. So etwa 12 m lang und 3 m breit. So ein Boot, womit man Reis
    oder Obst auf dem Fluss transportierte. Das größere Boot fuhr dann so langsam, dass wir drauf springen konnten.

    Das Mädchen am Ruder sollte eigentlich das kleine Boot zurück nach Hause bringen aber
    als wir anlegten, sprang sie mit auf das Schiff. Wir krochen hinein in den Laderaum. Ihr musst euch vorstellen so
    was ähnliches wie ein geschlossene Halfpipe bei Skateboarding aus Holz. Die Menschen saßen mit angezogenen Beinen auf dem Boden
    sich gegenüber und es war voll bis auf den letzten cm. Es war stockfinster. Man konnte nur etwas sehen wenn die
    Ladeklappe kurz auf und zu ging oder jemand von der Mannschaft mit einer Taschenlampe reinleuchtet. Niemand
    sagte was und wenn dann nur leises Geflüster. Ich hörte ein Baby wimmern. Oh Gott sind die verrückt, ein Baby
    mitzunehmen? Papa und ich saßen fast ganz vorne in der Halfpipe. Mein Herz raste wie wild. Zum ersten Mal nach
    sechs Versuchen waren wir so weit gekommen. Endlich in einem Schiff eingestiegen.


    Das Schiff fuhr weiter, hielte noch ein Mal an, um einige Passagiere einzusammeln und dann waren wir aufs Meer.
    Ich merkte das weil das Boot viel stärker schaukelte als auf dem Fluss. Die ersten fingen an sich zu übergeben.
    Blöd dass man keine Kotztüte verteilt hatte. Wir fuhren schon seit mehrere Stunden in einem geschlossenen
    dunklen Raum ohne Fenster voll mit Menschen, die auf dem Boden kotzten. Da hatte ich mir meine erste Schiffreise
    aber anders vorgestellt.

    Auf ein Mal ein starker Ruck und das Schiff blieb stehen. Grosse Aufregung auf dem Deck.
    Uns blieb das Herz stehen. War das schon wieder vorbei? Ende der Reise?
    Wir konnten nicht hören, was da draußen los war, bis jemand von der Besatzung runter stieg und uns die Lage erklärte.
    Unser Schiff war in einem stationären Fischernetz gefahren. Nun saßen wir fest, konnten weder vor- noch rückwärts bewegen.
    Die Besitzer der Netze hatten sich bereit erklärt, die Netze zu kappen wenn wir sie bezahlen. Ein Hut wurde rumgereicht
    und alle schmissen noch den Rest von dem vietnamesischen Geld hinein. Ich hatte mein Geld in der Hosentasche, kam
    aber nicht dran weil meine Beine nach mehreren Stunden in der angewinkelten Stellung eingeschlafen waren. Bis ich
    meinen Hintern etwas angehoben hatte war der Hut schon längst weiter gereicht worden. Die Fischer schnitten die Netze
    durch nachdem sie das Geld bekamen und wir fuhren endlich weiter. Bis dahin hatte ich es geschafft, nicht zu kotzen.
    Dann kam ein Gerücht von einem Kabelbrand in den Laderaum. Ich musste mich nach vorn beugen und es kam nur
    Magensäure hoch. Ich hatte den ganzen Tag weder gegessen noch getrunken.


    Ganz vorne am Schiff war ein kleiner Speicher, wo Kokosnüsse gelagert waren. Papa sagte ich sollte ihm mein Klappmesser
    geben. Ja, er wusste dass ich immer ein bei mir mit schleppte. Damit machte er ein Loch in einer Kokos und wir konnten
    endlich trinken.


    Es war nur ein einfaches Messer mit der Stahlsorte „Dosenblech“, 9cm Klinge ohne Verriegelung, von mir so scharf wie es
    ging geschliffen, aber es hatte uns für [FONT=&amp]einen Moment Erleichterung verschafft.[/FONT]

    Es hatte sich herausgestellt, die Tarnung von einer Gruppe der Passagiere war aufgeflogen und sie waren verhaftet worden.
    Da man davon ausging, sie würden unseren Plan verraten, müssten die Organisator das Unternehmen abbrechen. Sonst hätte
    die Polizei nur gemütlich an der Flusseinmündung auf das Schiff gewartet und uns alle einkassiert.


    Es war klar, dass die Flucht aus Vietnam keine einfache Sache war, aber mit solchen Schwierigkeiten hatten wir auch nicht
    gerechnet. Papa musste sich vollkommen auf seine Menschenkenntnisse und Empfehlungen von unserem Bekanntenkreis verlassen um
    Verhandlungen mit den Organisatoren zu führen. Alles nur mündlich und per Handschlag versiegelt. Ob diese Leute tatsächlich
    die Flucht organisierten oder nur Betrüger waren konnte er gar nicht feststellen. Anzeigen oder vor Gericht ziehen wenn es schief
    ging konnten wir nicht.
    Selbst wenn alles super geplant war, brauchte es nur eine Kleinigkeit um das Unternehmen zu kippen. Es gab zu viele Variabel.
    Die einzige Konstante war nur unser Wille zur Flucht.


    Fluchtversuch die zweite


    Verlief ähnlich unspektakulär und für uns enttäuschend. Wieder kam der „große Fisch“ nicht.
    Wieder mussten wir viel Geld zahlen für die Anreise und Unterkunft. Geld das wir von Munde gespart hatten. Das einzige Gute dabei war,
    wir waren diesmal ruhiger. Nicht mehr so aufgeregt wie beim ersten Mal.


    Fluchtversuch die dritte


    Fluchversuch die vierte


    Wenn ihr euch jetzt fragt, warum kommt der Typ nicht einfach zur Sache sondern faselt hier nur von den misslungenen Versuchen.
    Weil ich euch klar machen möchte, dass es im Ernstfall darauf ankommt, durchzuhalten, nicht aufgeben auch wenn die
    Fehlschläge einem mürbe machen. Mein Vater sagte immer zu mir, was du angefangen hast, bringe es auch zu ende.


    Zu unserem Glück hielt er selbst immer dran.

    Jedes Mal wenn wir wieder einen Versuch starteten und dieser wieder nicht geklappt hatte, schrieb meine Mutter einen
    Entschuldigungsbrief für meine Klassenlehrerin. Ich war angeblich entweder krank oder musste Verwandtschaften auf dem
    Land besuchen blah blah. Eines Tages holte sie mich zur Seite und sagte leise.“ Wenn du es irgendwann geschafft hast, lasse
    es mich wissen. Dann freue ich mich für dich.“ Was ich irgendwann geschafft haben sollte, traute sie nicht auszusprechen.
    Natürlich verstand ich trotzdem was sie meinte. Aber als Staatbedienstete müsste sie uns eigentlich bei der Polizei anzeigen.
    Ich glaube. Sie würde auch gern selber abhauen, hätte sie eine Chance bekommen.


    An dieser Stelle eine kleine Statistik. Es gibt keine genaue Statistik darüber, wie viele Menschen damals aus dem Land zu
    fliehen versuchten. Wie viele es geschafft hatten und wie viele nicht. Wie denn auch. Alles lief im Verborgenen ab. Ich durfte
    noch nicht mal mit meinen besten Freunden darüber reden.
    Trotzdem von mir hier eine Statistik aus meiner direkten Nachbarschaft.


    Im unseren Block lebten 15 Familien.


    Die reichste davon, ein Juweliergeschäft, hauten zu erst ab, kam aber wieder. Wohnsitz samt Geschäft beschlagnahmt.
    Danach wohnten sie in einem Blechhütten in einem der Armenviertel Saigons.


    Rechts von uns, die Familie betrieb eine Buchhandlung, wurde bei der Flucht auf dem Meer von thailändischen Piraten
    ausgeraubt, die beiden Töchtern vergewaltigt und verschleppt, die Mutter hatte daraufhin einen Herzinfarkt und verstarb.
    Nur der Vater schaffte in ein Flüchtlingslager Thailands zu kommen.


    Links von uns, ein Apothekerfamilie, mit zwei Kindern schickte uns ihre Fotos aus Amerika.

    Drei Türen weiter waren die Familie auf ein Mal weg. Von denen hatten wir nichts mehr gehört.

    Von 15 Familien versuchten 4 und nur eine einzige schaffte es unbeschadet in ein sicheres Land.

    Wenn die Wohnungen eine Weile leer standen wurden sie von den Behörden konfisziert und an Beamten bzw. Funktionäre
    der Partei vergeben. In die Wohnung links von uns zog eines Tages ein junges Ehepaar ein. Sie kamen weit aus dem Norden
    Vietnams. Durch und durch Kommunist. Der Mann bekam ein Posten als Polizeibeamter in Saigon, nun Ho Chi Minh - Stadt
    genannt.
    Ja toll. Schlimmer könnte uns gar nicht treffen. Wie sollten wir unser Vorhaben geheim halten mit einem Polizist
    als Nachbar. Die Frau war zu dem Zeitpunkt schwanger. Von einem kleinen Provinz direkt in einen der größten Metropole
    Asiens. Die Frau wusste noch nicht mal wie man die Toilettenspülung bedient, als hätte sie ein Lebenslang nur auf dem
    Plumpsklo gehockt. Die beiden waren ganz allein ohne Verwandtschaft. Alle aus der Nachbarschaft behandelten die beiden,
    wie soll ich sagen, höflich distanziert. Durch den ganzen Stress erlitt sie eine Frühgeburt. Mama kam öfter rüber und bot
    ihre Hilfe an, zeigte ihr wie es hier läuft, wo man was bekam, besorgte Medikamenten auf dem Schwarzmarkt…


    Die Frau bekam einen elektrischen Reiskocher der Marke Sanyo von unserem Restbestand geschenkt worauf sie riesig
    freute. Das Ding war für eine Hausfrau in Vietnam im Jahre 1980 vergleichbar heute mit einem Induktionsherd mit
    Sprachsteuerung plus eingebauten Internetzugang und Fernsteuerung via Smartphon App.


    Ob ihre Hilfsbereitschaft reine Kalkül oder wahre Nächstenliebe war? Von beiden etwas würde ich sagen. Auf jedem Fall
    hatte der Mann, der sehr schnell Kariere machte und später ein richtig hohes Tier war, die ganze Jahre danach schützend
    die Hand über unsere Familie gelegt. Auch als Papa und mir die Flucht gelungen war. Ich glaube er war der einzige Vietcong,
    den Papa gut leiden kann. Ohne ihn hätten wir viel schwerer gehabt. Oder der hätte uns einfach verhaftet. So blöd war der
    nicht um zu erkennen, was wir vor hatten.


    Und die Moral von der Geschicht: nett zu sein lohnt es sich .:drinks:

    Auch die fünften und sechsten Versuche waren ein Schlag ins Wasser. Finanziell waren wir am Ende. Alle Reserve verbraucht.
    Sogar Goldschmuck von meiner Oma wurde geopfert.
    Um mehr Einfluss auf das Geschehen zu bekommen ging Papa auf Risiko und beteiligte nun aktiv in die Planung. Meist kriegten
    wir davon nicht mit, außer dass ab und zu fremde Leute bei uns übernachten.

    Darunter war ein junges Pärchen. Der Mann sollte das Schiff steuern. Die beide kamen aus dem Provinz, blieben manchmal
    wochenlang. Die beiden fühlten sich wohl bei uns und genossen das Leben in der Großstadt.


    Fluchtversuch die siebte

    Am 31. August, ich weiß es noch so genau weil es kurz vor unseren Nationalfeiertag war und wir am 2.September Schulfrei hätten,
    stand ich wie immer auf, machte mich fertig für die Schule, bestellte mir zum Frühstück ein leckeres Gericht aus einer Garküche
    in der Nachbarschaft als Papa nach Hause kam und sagte, ich sollte sofort mitkommen. Als gut erzogener 14jährige vietnamesische
    Junge tat ich es ohne nachzufragen und ließ mein Essen stehen. (Probiert es mal heute mit eueren Kindern :grosses Lachen:) Was ich bei mir trug
    war meinen Schuluniform, weißes Hemd, dunkelblaue Hose, zwei Klappmesser und etwas Taschengeld.


    Schweigend folgte ich Papa. Da ich nicht wüsste wohin wir gehen sollten, hatte ich mich von niemandem verabschiedet.
    Wir kamen ja gleich wieder hatte ich damals gedacht.


    Wir stiegen in den Bus und fuhren zum Fernbusbahnhof. Von da aus fuhren wir weiter nach Süden. Ich ahnte was schlimmes, traute
    mich aber nicht zu fragen. Außerdem saßen wir im Bus. Wir konnte eh nicht frei reden. Also ließ ich es.


    Am Ziel traf ich diesen Steuermann wieder. Wir kamen in seinem Haus runter. Erst dann erfuhr ich was los war. Der Typ, der auf
    das Boot aufpassen sollte, hatte vor dieses zu klauen und mit seinen eigenen Passagieren abzuhauen. Der Steuermann wurde mit
    ins Boot geholt da er es lenken sollte und er wiederum meinen Vater davon berichtete. Papa hatte die Wahl, den eigentlichen
    Besitzer zu informieren oder mitzukommen. Er entschied sich für letzteres.


    - - - AKTUALISIERT - - -


    Hallo Leute.
    Ich möchte demnächst einige Bilder zu der Geschichte zeigen.
    Ich probiere es heute mal aus wie es funktioniert.
    So sehen die Seitenflüsse im Mekongsdelta aus.
    [ATTACH=CONFIG]18961[/ATTACH][ATTACH=CONFIG]18962[/ATTACH]

    Papa gab mir vier kleine Zettel mit jeweils einer Adresse drauf. Ausländische Adresse in USA, Kanada, Australien…
    Ich sollte mir die alle einprägen. Damals mit 12 war ich noch fit im Kopf. Es war für mit kein Problem diese für
    mich unverständliche Buchstabenkombination auswendig zu lernen. Ich schrieb sie immer wieder auf einem Blatt
    Papier und schmiss es in den Ofen. Falls wir gefasst werden sollten, dürfen die Polizisten solchen Adresse natürlich
    nicht bei uns finden.



    Fluchversuch die Erste




    Endlich ging es los. Es war für mich in meiner jugendlichen Naivität bloß ein großes Abendteuer. Mir war irgendwie
    zu dem Zeitpunkt nicht bewusst, dass Papa und ich, abgesehen von den Gefahren, die uns demnächst passieren
    könnten, erstmal für eine unbestimmte Zeit von dem Rest der Familie getrennt würden.


    Der Abschied war erwartungsgemäß tränenreich. Besonders schlimm war es für Oma und Mutter. Ohne einen Mann
    im Haus war für eine asiatische Familie damals keine schöne Situation. Aber in Vietnam bei den Kommunisten
    auszuharren war für uns keine Option.


    Wir müssten raus. Auch wenn es uns das Leben kostet.

    Papa und ich kauften Tickets für die Fahrt mit einem Überlandbus in einem kleinen Dorf irgendwo in Mekongsdelta.
    Als Gepäck nur jeweils eine kleine Handtasche mit ein paar Klamotten zu wechseln. Mehr war nicht erlaubt.
    Nix mit 20 kg pro Nase + Bordtasche. :nono:



    Die Familie, zu der wir fuhren, gab an, wir wären entfernte Verwandten und spielten ihre Rolle sehr gut.
    Schließlich hatten sie auch viel Geld dafür bekommen. Trotzdem glaubte ich nicht, dass es für sie das Risiko wert war.
    Falls die Sache auffliegen würde, bekämen sie eine Menge Ärger.



    Es sollte wie folgendes ablaufen. Wir sollten dort abwarten, bis alle Passagiere, verteilt auf mehreren Dörfern, wie wir
    in Position waren. Dann fuhr das Schiff, Codewort: “große Fisch“, den Fluss entlang. Die kleinere Boote, Codewort: “kleine Fisch“
    bracht die Leuten nach und nach auf den großen Boot.


    Eine meisterhafte logistische Leistung wenn man bedenkt, alles lief ohne Telephon ab.
    Damals in den Provinzen hatte man noch nicht mal Elektrizität.

    Wir warteten zwei Tagen bis zu dem Zeitpunkt, wo das große Schiff kommen sollte.


    Dann stiegen wir nachts auf ein kleines Ruderboot. Die Leute, die uns beherbergten, ruderten uns langsam den Fluss entlang,
    hielten ständig Ausschau nach unser Schiff. Wenn ein Schiff gesichtet wurde, blinkten sie mit einer Taschenlampe einen
    bestimmten Code diese an.


    Keine der Schiffe hatten geantwortet. Als der Morgen anbrach, hatten wir die Hoffnung, verloren, dass das Schiff noch kam.

    Uns blieb nichts anderes als uns bei den Leuten zu bedanken und uns auf dem Heinweg zu begeben.

    2.Kapitel - Die Flucht



    Auch meine Eltern entschieden sich zu fliehen. Vieles sprach dafür und wiederum vieles dagegen.
    Wenn uns die Flucht geling, könnten wir in der neuen Heimat eine Chance bekommen, eine Leben in Freiheit,
    ohne Angst vor Kriege, vor Repressalien, vor Hunger und Armut. Außerdem war ich mittlerweile 12 Jahre alt.
    Beim nächsten Krieg könnte ich schon alt genug sein um in die Armee eingezogen zu werden. Papa erwähnte das oft.
    Ich glaube, es ging ihm nicht darum, dass ich, wie er selbst mal war, Soldat sein würde. Wir Jungs wurden
    ein Leben lang darauf getrimmt, tapfer für Vaterland zu kämpfen. Er hatte es auch freiwillig für seine Ideale gekämpft.
    Er war nur nicht bereit seinen geliebten Erstgeborenen für die Vietcongs zu opfern.


    Wenn wir jedoch erwischt werden sollten, auch schon bei der Vorbereitung, müssten wir damit rechnen,
    verhaftet zu werden. Im schlimmsten Fall könnten wir alles verlieren. Unsere zu Hause mit samt Hab und Gut.


    (Im Jahre 2000, als ich nach 19 Jahre zum ersten Mal meine Heimat besuchte, traf ich einen alten Schulkameraden
    wieder. Auch er und seine Familie wagten die Flucht. Leider wurden sie entdeckt und gefangen genommen. Man hatte
    ihn beim Verhör mehrmals mit einem Holzhocker geschlagen, anschließend für 2 Jahre Gefängnis gesteckt.
    Damals war er 16 Jahre alt.)


    Schweren Herzen fassten meine Eltern den Plan, dass nur Papa und ich gehen und den Rest der Familiespäter nach
    holen sollten. Falls die Flucht scheitern würde, waren wir mindestens nicht obdachlos.


    Wer lässt schon gern Frau und vier kleine Kinder in so einem Land, in so einer Zeit zurück. Aber zum besseren Verständnis
    möchte ich die Lage etwa so beschreiben. Wir saßen alle in einem langsam sinkenden Boot. Am Horizont sahen wir ein
    leeres Rettungsfloss. Ohne zu wissen, ob wir es schaffen, müssen Papa und ich versuchen, dahin zu schwimmen,
    das Floß holen, um den Rest der Familie zu retten. Egal wie gut oder schlecht die Chance steht. Tun wir das nicht,
    werden wir alle ertrinken.



    Nun, wie plante man eine Flucht aus dem kommunistischen Vietnam im Jahre 1979.
    Im nächst besten Reisebüro? :grosses Lachen: Natürlich nicht.


    Man kannte jemanden, der wiederum jemanden kannte, der wusste, wo man hin gehen sollte, um nach jemanden
    zu fragen, der möglicherweise etwas wüsste …


    Und wenn in der Kette eine undichte Stelle gab und die Behörde Wind davon bekam dann hatte man ein Problem.

    Zum Glück hatten meine Eltern unheimlich viele Kontakte. Zuverlässige Kontakte. Sie die geschäftliche und er von
    seiner zeit in der Armee. Diese Leute leiteten meine Eltern an die gewünschten Personen weiter.


    Wir hatten die Wahl, nach Westen über die Gebirge und durch den Dschungel zu Fuß nach Thailand oder mit dem Boot
    über südchinesisches Meer. Der Fußweg kostete billiger, aber auch anstrengender und sehr gefährlich. Mit dem Boot
    war es nicht minder gefährlich, musste man aber nicht selber laufen. Also entschieden wir uns fürs Boot. :unschuldig:


    Die Organisatoren waren entgegen einschlägigem Vorurteile kein skrupellose Schlepper sondern Menschen, die selbst
    aus dem Land fliehen wollten. Da sie finanziell oft nicht in der Lage waren, selbst die Flucht zu organisieren, sammelten
    sie Mitstreiter. Jeder steuerte einen Teil bei. Wer z.B. Mechaniker oder die Fähigkeit besaß, auf hohe See zu navigieren,
    kam gratis mit. Sonst brauchte man viel Geld zum Bootskauf, für Vorräte, Treibstoff und sehr viel um die Polizisten vor
    Ort zu kaufen. Anders hatte man keine Chance, unbemerkt an einer der vielen Flussmündungen Mekongs aufs Boot zu steigen.
    Wie viel wir zahlen müssten oder wie die Zahlungsmodalitäten war, weiß ich bis heute nicht. Ich hatte nur oft mitbekommen,
    wie Papa dünnes Goldplättchen zusammen rollte und in den Saun (nennt man das so?) seines Hemdes steckte bevor er
    zu diesen Leuten ging.

    Zitat von Buschmann;177629


    Mich würde eine Antwort von leonardo interessieren, wie und worauf, mit was und wofür, wann und wieso auf die angesprochenen Vorzeichen reagiert wurde oder aber auch nicht!


    LG Buschmann


    He Leute, ich war acht Jahre alt. :Kopfschuetel:
    Ihr erwartet von mir doch nicht eine detailierte Analyse von den Ereignissen und die Reaktion meiner Eltern darauf oder habe ich die Frage falsch verstanden?

    Wie konnte es anders sein. Papa entschied sich zu stellen, um die Familie zu schützen.
    Der Tag bevor er ging hatte alle fürchterlich geweint. Mama um ihren Mann, Oma um den einzigen Sohn,
    der unseren Stammbaum fortsetzen sollte. Meine Geschwister waren zu klein um zu verstehen, was Sache war.
    Ich aber schon. Egal wie schön die Vietcongs das Ganze verpackt hatten, es war schlicht und einfach Kriegsgefangenschaft.


    An der Stelle möchte ich noch was hinzufügen. Papa war 31 als der Krieg endete. Ich war 8. Mama hat mich mit 16 bekommen,
    also war sie 24.


    Vierundzwanzig Jahre alt war sie zu dem Zeitpunkt. Was hatte sie alles durchgemacht mit vierundzwanzig?
    Was hatte ich für Sorgen und Nöten als ich in dem Alter war? Wo die nächste Urlaubsreise hingeht? Was für ein Auto ich mir kaufen soll?

    Erwartungsgemäß trauten niemand das Versprechen der Vietcongs, nach eine Woche, die
    Ex- südvietnamesischen Soldaten wieder zu entlassen. Nur wenige meldeten sich freiwillig. Umso mehr überrascht waren wir als
    Papa nach 10 Tagen wieder vor unsere Tür stand.


    Durch mehrere glückliche Umstände wurde er doch so schnell freigelassen.
    Sein Vorgesetzte in der Armee, der auch ein guter Freund war, hatte ihn, als seine Entlassung aus dem Dienst feststand, P
    apa in eine Versorgungseinheit versetzt, um zu verhindern, dass ihm womöglich noch was Schlimmes kurz vor der Entlassung passieren könnte.

    Papa hatte den Vietcongs, die ihn verhörten, mit einigen Dokumenten überzeugen können, dass er nur Versorgungsoffizier und nicht in
    Kampfhandlungen verwickelt war.


    Um die restlichen Ex-Soldaten zu ermutigen sich doch zu stellen, wurden harmlose Fälle wie mein Vater ausgesucht und freigelassen.
    Die Tatsachen, dass er sich frühzeitig stellte, sein Freund ihn in die Versorgungseinheit versetzte und die Vietcongs Köder brauchten
    hatten ihn gerettet.



    Die anderen, die sich später sich meldeten, verbrachten die nächsten Jahre in Straflager in den Dschungels Vietnams.
    Der Mann von meiner Tante mütterlicherseits hatte in der Marine gedient. Ein Traum von einem Mann. Bei seinem
    Anblick in der weißen Uniform schmolzen die Mädchen nur dahin.
    Als er 1980 aus dem Lager entlassen wurde, war er nur noch ein Schatten seiner selbst. Verängstig, misstrauisch,
    um Jahrzente gealtert, gezeichnet von Folter, Hunger und Krankheiten.



    Abgesehen von den größeren Krisen mussten unsere Eltern uns und Oma nebenbei noch durch die Runde bringen.
    Und es war wahrlich nicht einfach.
    Das von den Amerikanern verhängte Embargo stülpte über uns wie eine eiserne Glocke. Nichts kam rein nichts ging raus.
    Die reichen Chinesen im Land, die früher mit ihrem Kontakten nach Hongkong oder Taiwan für den Import/Export sorgten
    waren meist verhaftet, getötet oder vertrieben. Unser Restwarenbestand von Kleinelektrogeräten verkaufte Mama nach
    und nach unter der Hand. Das hatte uns für eine Weile übers Wasser gehalten.
    Das Auto wurde Papa schon ganz früh abgenommen. Nur Staatbedienstete oder Personen mit Sondergenehmigung dürften
    Auto besitzen. Da er während seiner Dienstzeit in der Panzerkompanie LKW Führerschein erworben hatte, fand er ein Job als Busfahrer.

    Irgendwie hatten sie immer geschafft, für uns halbwegs anständig zu sorgen. Das muss wohl in unserem angeborenen Pragmatismus liegen.
    Immer das Beste aus jeder Situation machen.

    Das Leben in der Stadt normalisierte sich in den folgenden Jahren, so gut die Umstände erlaubten. Bars und Kaffees hatten wieder geöffnet,
    auch wenn viele Schmiergelder an den richtigen Stellen nötig waren. Wir Kinder gingen wieder zur Schule. Die Hälfte der Zeit lernten wir nur kommunistische Propaganda aber unsere Disziplin und Wissensdurst von früher war zum Glück geblieben.

    Kleinbetrieben stellten alles, was man im Alltag brauchten her, die Markthändler brachten diese an den Kunden. Handel im großen Stil
    durften nur staatliche Warenhäusern.

    Die Lage schien sich beruhigt zu haben, bis die Kambodschaner 1977 ein paar kleine Dörfer an der Grenze angriffen. Die Vietnamesen
    ließen sich so was natürlich nicht gefallen und es gab wieder Krieg!!!!

    Wieder wurden junge Männer eingezogen, drei Monaten Grundausbildung an der Waffe und ab an die Front. Wieder kamen sie in den
    Särgen mit Blumenkran und Landesflagge nach Hause.
    Dann mischten sich die Chinesen auch noch ein und griffen uns an der Nordgrenze an. Noch mehr junge Männer an die Front, noch mehr
    Särgen mit Blumenkran und Flagge na ja ihr wisst schon.

    Die Menschen, die noch vor Kriegende geschafft haben, in Ausland zu flüchten, hatten sich mittlerweile Fuß gefasst. Diese unterstützten,
    nach unserer Tradition, mit allen Kräften die zurückgebliebenen Verwandtschaften. Es kam Unsummen von Devisen und alles mögliche
    Waren ins Land. Auch wenn die Hälfte davon der Staat als Steuer behielt, war der Rest für damalige Verhältnisse ein kleines Vermögen.
    Die Regierung entdeckte eine lohnende Devisen und Warenquelle und ermutigte sogar indirekt dieses Treiben. Man durfte nach Ausland
    Telefonieren, Briefe wurden mehr oder weniger zuverlässig befördert. Die Pakete wurden nicht mehr so streng kontrolliert…

    Briefe und Fotos kamen an, die uns einen Einblick in eine bis dato uns komplett fremden Welt
    boten. Eine freie Welt, mit freien Wahlen, ohne Hunger, gehen wohin man will, sagen was man denkt, Wohlstand, Glück,
    und das Wichtigste: ohne Krieg.

    Von da an versuchten alle, die die Möglichkeit hatten, aus dem Land zu fliehen. Sicher spielte der wirtschaftliche Grund eine große Rolle.
    Das will ich gar nicht bestreiten. Aber ihr. Nachdem ihr meine Geschichte bis hierhin verfolgt habt, würdet ihr es diesen Menschen übel nehmen.
    Was hättet ihr in deren Lage getan?

    Zitat von survival;177329

    Schaut mal, Leute - leonardo hat sehr freundlich auf meine offene und sicher nicht unfreundliche Anfrage reagiert und dann war mir geholfen und es war für mich geklärt!
    Manchmal brauche ich eben zusätzliche Erklärungen, um etwas besser zu verstehen!!!


    LG von der Survival


    Auch das gehört meiner Meinung nach zu einer sehr wichtigen Eigenschaft um zu überleben. Nämlich miteinander auskommen.
    Wenn wir hier und jetzt, wo es uns blendend geht, uns schon wegen jeder Kleinigkeit schon an den Hals springen,
    auf jedes unachtsam geschriebenes Wort sich beleidigt fühlen,
    wie sollen wir uns dann, wenn die Katastrophe da ist, wenn wir gestresst, hungernd, durstig,
    den Verlust unseren Liebsten trauernd verhalten?
    Du kannst dir sicher sein, dass ich das, was du geschrieben hast, nicht krumm nehme.
    Du und auch vielen hier im Forum sind hier behütet aufgewachsen (zum Glück).
    Ihr wisst es eben nicht besser. Ihr wiegt euch in Sicherheit wenn der Zaun hoch, das Auto voll getankt,
    die Messer geschärft, die Schränke gefüllt sind. Es ist ja auch nicht falsch. Aber es gibt im Leben noch mehr andere Versionen von Unheil.
    Wenn ihr nach dieser Geschichte euch ein wenig Gedanken darüber macht dann hat sich das für mich gelohnt, sie zu erzählen.


    Liebe Grüße


    [COLOR="silver"]- - - AKTUALISIERT - - -[/COLOR]


    Da unsere Familie in der Kategorie „Klein- und Großhändler“ rein passte, bestand akute Gefahr,
    in die neue Wirtschaftszone geschickt zu werden. Die Rückkehrer erzählten Horrorgeschichte,
    wie es dort im Dschungel abgelaufen war. Wer nicht von wilden Tieren, Schlagen, Skorpionen
    Giftspinnen getötet wurde, starb an Krankheiten und Hunger. Man kann doch nicht irgendwelche
    Stadtbewohner, Lehrer, Verkäufer… von heute auf morgen in
    tiefsten Dschungel loslassen und sagen nun mach’ mal!
    Ich glaube die Strategie von den Kommunisten war: wenn wir die Leuten sofort erschießen oder in KZ
    stecken würden die anderen aus Verzweiflung rebellieren und die ganze Welt könnte mit Empörung reagieren.
    Aber so, die haben Land und Starthilfe bekommen. Wenn die nicht schaffen, einen Beitrag zu wirtschaftlichen
    Aufschwung des Landes zu leisten, kann es nur daran liegen, dass sie nur anderen Menschen ausbeuten und selber
    nichts produktiv tätigen können.

    Teuflisch genial oder? Ich frage mich nur, ob sie sich das selber ausgedacht hatten oder nur von den Russen abgeguckt.

    Papa holte eine „Reisegenehmigung“ * von den Behörden und fuhr für ein paar Tage in sein Heimatdorf. Irgendwo in
    einer kleinen Provinz südlich von Saigon.
    *zu Erklärung: um von einer Stadt zur anderen musste man eine Genehmigung beantragen, wohin, wie lange, zu wem, warum…usw.
    Dabei lautet der Wahlspruch der Partei “ Unabhängigkeit, Freiheit, Glück“. Was für eine gequirlte Sch*****.

    Als er wieder kam, präsentierte Papa eine Bescheinigung von der dortigen Behörde, dass wir in der besagten Provinz
    ein Stück Ackerland plus Haus besaßen und als Reisbauern arbeiteten.
    Nebenbei züchteten wir noch vier Schweine. Somit fielen aus der Raste als Kandidat für die „Neue Wirtschaftszone“ raus.
    Wie Papa das gemacht hatte wusste ich damals nicht. Sicherlich mit etwas Schmiergeldern, die nötigen Verbindung und
    Hilfe von seinem „ Clans“. Ich selbst war einige Male in den Ferien dort. Das halbe Dorf war mit einander irgendwie verwandt
    oder verschwägert. Und auf den Familienzusammenhalt könnten wir uns immer verlassen.

    Es war nicht so dass wir das Gefühl hatte, jemand hielt uns eine Kanone am Kopf sondern viel mehr eine Schlinge am Hals,
    die ab und zu uns die Luft zuschürte aber gerade noch zuließ, dass wir japsen uns herauswindeln und nach Luft schnappen
    konnten damit sie wieder fester anzog.

    Alle Ex-Soldaten der südvietnamesischen Armee, also die Verräter, wie mein Papa, mussten sich unverzüglich bei den Behörden melden.
    Diese sollten sich an einen einwöchigen „Umerziehungsseminaren“ teilnehmen. Wer sich nicht freiwillig meldete musste mit harten
    Strafen rechnen. Wie harten Strafen? Wenn man für Handtaschenraub schon erschossen wurde, was soll man noch sonst für Strafen erwarten?

    Berechtigten Misstrauen machte sich breit. Niemand glaubte daran, nach so einem brutalen Krieg mit solchen Verlusten auf beiden
    Seiten eine „Seminar“ die Versöhnung herbeiführen konnte.
    Wieder befand Papa in Dilemma. Meldet er sich, kehrt er höchstwahrscheinlich nie zurück.
    Meldet er sich nicht und es flog irgendwie auf, könnte die ganze Familie bestraft werden.
    Deportation. Enteignung.

    Danke für eueren Zuspruch. Ich gebe mir Mühe, die Geschichte aus meiner persönlichen Sicht und Erinnerung zu erzählen.
    Falls manche Details nicht mit dem Berichten einschlägigen Medien sich übereinstimmen dann ist es Absicht. Ihr lest hier die
    ungefiltete Wahrheit, erzählt aus der Sicht eines kleinen vietnamesichen Jungen. Keine Copie&Paste-Mist irgendwo im Netz
    zusammen getragen.


    Und weiter geht's.



    Es kamen immer mehr Vietcongs in die Stadt. Man sah sie überall. Beide Seiten, die Stadtbewohner und die Neuankömmlinge,
    bemühten sich zueinander freundlich zu sein. Noch vor kurzem waren sie noch Todfeinde. Manchmal kamen sie zu uns, kauften
    was und zahlten mit ihrer Währung. Mama wusste nicht was dieses Geld wert war, hatte aber einfach akzeptiert.



    Nach und nach hatten die Vietcongs sich organisiert. Diverse Behörden und Komitee teilten sie sich untereinender auf, nicht nach
    Kompetenz sondern mehr oder weniger willkürlich. Wer in der kommunistischen Partei mehr Einfluss besaß, kriegte ein höhere Posten.
    Der wiederum begünstigte seinen nahstehenden Kameraden. Die meisten waren Bauern bevor sie Soldaten wurden. Mit viel Glück
    konnten sie gerade noch lesen und schreiben. Nun sollten sie ein Gebiet unmittelbar nach einem Krieg mit über 30 Mio Einwohner,
    davon 2 Mio allein in Saigon, verwalten und Regieren. Man musste nicht Experte sein um zu wissen, dass es nie und nimmer gut gehen konnte.



    „Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, so gib ihm Macht.“ Sagte Abraham Lincoln.
    Nun bekam nicht nur ein Mensch die Macht über uns sondern eine ganze feindliche Armee. In den folgenden Monaten und Jahren wurden Gesetze
    und Beschlusse erlassen, die sich gegenseitig mit Absurditäten überbieten.



    Die Enteignung der Reichen



    Jeglicher Reichtum konnte nur durch Ausbeutung des Volkes entstehen, besagt angeblich die Lehre von dem großen Karl Marx.
    Also musste man diesen Reichtum dem Volk zurückgeben.


    Und so wurde es gemacht: man nehme ein bewaffnetes Kommando, stürmte unangekündigt das Haus von einer, angeblich reicher Familie,
    verlas einen Beschluss der Volkkomitee: „Du Kapitalistenschwein hat lange genug das Volk ausgebeutet. Jetzt wird dein Vermögen
    beschlagnahm und dem Volk wiedergegeben.“


    Das Haus wurde auf dem Kopf gestellt, alles was wert war mitgenommen und der Hausherr hat sich in den nächsten Tage bei der Polizei
    sich zu melden zwecks Deportation in ein“ Umerziehungslager“



    So, habt ihr das gelesen? Kommt euch etwas bekannt vor? Da war doch was Ähnliches in den 40er auch hier in Europa oder täusche ich mich.
    Es herrschte blankes Entsetzen in der Stadt. Niemand wusste wann und ob er selber dran sei.
    Jedes Mal wenn ein Auto mit Soldaten vorbei fuhr, zuckten meine Eltern zusammen.

    Die Währungsumstellung



    Eine neue, einheitliche Währung musste her. Aber der Gleichheit und Gerechtigkeit wegen durften alle nur eine bestimmte Summe Geld besitzen.
    Also von einem Tag auf den anderen wurde das Geld umgetauscht. Ohne vorherige Ankündigung. Es lief so ab: es wurde eine Ausgangsperre verhängt.
    In den Tauschlokalen konnte man das alte Geld gegen neue umtauschen. Und zwar einen vorgeschriebenen Betrag pro Kopf.
    Den Rest des Geldes wurde in einem Konto gutgeschrieben und beim “ begründeten Bedarf“ konnte man einen Antrag auf Auszahlung stellen.


    Bisher alles klar? Es konnte nichts Schlimmeres kommen denkt ihr? Falsch gedacht.


    Die neue Wirtschaftszone



    Vietnam ist kein kleines Land wie sich die meisten Europäer vorstellt. Von der Fläche her ist Vietnam so groß wie das jetzige Deutschland. Besiedelt wurden aber nur das fruchtbare Mekongsdelta und die Küstenbereiche. Im Hinterland breitete sich der Dschungel aus.
    Riesiger, dichtbewachsener Regenwald. Jeder, der halbwegs im Biologie aufgepasst hat, weißt: auch wenn es da von natur aus keucht und fleucht,
    stirbt der Boden sofort ab sobald der Mensch via Rodung und Monokultur Ackerland daraus macht.

    Von der all so gütigen, weisen kommunistische Partei kam wieder einen genialen Erlass, der es in sich hatte:
    Um das bis dato der Natur überlassenes Land zu nutzen, wurden Stadtbewohner ausgesucht, die dahin deportiert werden sollen damit sie den
    Tropenwald zum Ackerland umwandeln.


    Nach folgenden Kriterien wurde ausgesucht. Alle die

    -keine reguläre Arbeit hatte


    -keinen offiziell angemeldeten Wohnsitz vorweisen konnte


    -in reservierten Bezirken für Funktionären und Stattbeamten wohnten


    -Klein- und Großhändler, Grundbesitzer


    -Chinesen und Christen waren



    bekamen großzügigerweise ein Stück Dschungel mit einem Strohhütten drauf geschenkt.


    800 kg Gepäck pro Familie durfte man mitnehmen. Der bisherige Wohnsitz bekam selbstverständlich der Staat als Aufwandentschädigung.

    Von Kriegsende bis zu dem Tag, als ich das Land verlasse, sind ca 1,5 Mio in die neue Wirtschaftszone deportiert worden.
    Insgesamt bis Jahre 2000 sind es 5 Mio.


    Immerhin ist da nicht so kalt wie in Sibirien.


    Von Hunger und Krankheiten geschwächt kamen immer mehr Menschen zurück nach Saigon.
    Ich weiß nicht wie viele ihre Leben in den Dschungel lassen mussten aber bestimmt nicht wenig. Wer kein Verwandten hatte, die einen
    aufnehmen konnten war nun obdachlos.


    Unter unserem Vordach schlafen manchmal welche, die aber sobald es hell wurde weiterzogen.

    @ Survival-asia: Danke für dein Kompliment. Die Deutsche Sprache habe ich gelernt als ich hier ankam.


    Grob vorgestellt habe ich mich hier: Jetzt stelle ich mich auch vor

    Es freue mich sehr wenn diese kleine Geschichte dir und vielen hier im Forum gefällt.
    Der interessantere Teil, die Flucht und die Zeit im Camp auf den Philippinen, kommt noch.

    survival es bleibt jedem überlassen, was er aus Erfahrung anderer Menschen lernen kann oder will. Preppen bedeutet für mich nicht nur das schärfste Messer, die hellste Taschenlampe, das tollste Auto, die größte Menge am Vorrat zu haben sondern sich auf allen möglichen schlimmen Situationen sich vorzubereiten und falls es doch dazu käme, diese klaglos ertragen zu können.


    Konfuzius sagt: "Der Mensch hat dreierlei Wege klug zu handeln: durch Nachdenken ist der edelste, durch Nachahmen der einfachste, durch Erfahrung der bitterste." Was der Spruch hiermit zu tun hat? Keine Ahnung. Fällt mir so grad spontan ein :grosses Lachen:



    Ich bemühe mich, trotz Arbeit, Haus und Kind, mindestens eine halbe Stunde am Tag daran zu schreiben.

    Danke für eure Aufmerksamkeit und Geduld


    Gruss

    Ich bitte euch um Geduld. Die Eigentliche Geschichte kommt noch. Undsie hat wohl was mit Preppen zu tun.
    Ich möchte erstmal den Grund für unser Flucht aus Vietnam erklären.
    Das Thema ist viel komplexe als dass ich einfach sagen könnte, wir haben nichts zu fressen und hier gibt es Sozialshilfe plus Kinder Geld,
    deswegen sind wir hier.
    Ausserdem ist mal was anderes als Katastrophe a la Stromausfall oder vollgelaufenen Keller :face_with_rolling_eyes:.
    Gruss

    Der befürchtete Racheakt der Vietcongs blieb aus. Vorerst.
    Die Sieger marschierten triumphierend in die Stadt. Zum ersten Mal im Leben sah ich echte Vietcongs live.
    Es gab die regulären Truppen von Norden im beigefarbenen Uniform und die Guerillakämpfer der National Befreiungsfront im
    schwarzen Klamotten. Abgesehen von ihrer Bewaffnung wirkten sie auf dem ersten Blick gar nicht bedrohlich sondern winkten
    uns freundlich lächelnd zu. Wir Kinder durften zum ersten Mal seit Wochen wieder auf die Strassen gehen.


    Autos mit Megaphon fuhren durch unseren Stadtteil und verkündeten den Sieg des Volkes über die amerikanische Besatzung und die Verräter.

    Überall lagen Waffen, Munition, Uniformen und Ausrüstung der südvietnamesischen Armee. Mir hatte es viel Spaß gemacht,
    die Patronen aufzubrechen und das Schiesspulver anzuzünden.


    Die älteren Jungs fuchtelten mit den Waffen rum. Ab und zu knallte es. Ob jemand getroffen wurde wusste ich nicht.
    Mama hängte die selbst genähte Flagge über der Tür auf. Viele in der Nachbarschaft taten das gleiche.


    In den nächsten Tagen herrschte das Chaos in der Stadt. Stündlich fuhren wagen mit Megaphon durch die Strassen und verkündeten Anweisungen, Beschlüsse der neuen Verwaltungskomitee oder einfach nur Propagandamusik. Manchmal beschimpften sie die Amerikaner und die Verräter,
    so was wie mein Vater, oder die kapitalistische Ausbeuter, also die Reichen. Alles war für mich neu aber meist hatte ich verstanden worum es ging.


    Die Waffen wurden auf Schubkarre eingesammelt. Und es war eine Menge Waffen.
    Papa hatte seine Dienstwaffe, ein Colt M 1911 aber nicht abgegeben. Ich wusste, in welcher Schublade das Ding lag. Ich hatte früher immer damit rumgespielt wenn er es säuberte.

    Nach und nach kehrte etwas wie Normalität zurück. Vereinzelt öffneten Geschäfte und Restaurants wieder. Mama war clever. Sie wüssten, dass man ab jetzt keine neue Ware mehr von Ausland bekam, damals meist von Hongkong, Taiwan oder Japan, und nahm die Elektrogeräten von Regal. Im neuen Sortiment verkaufte sie nun unter anderen Propagandaartikel wie Flagge, Porträt von Ho Chi Minh, Anstecknadel…usw. Weiss der Geier woher sie die Ware so schnell auftreiben konnte. Geschäftüchtige Frau halt.



    Da es keine funktionierende Polizeibehörde gab, wurde so was wie ein Bürgermiliz aufgestellt.

    Auf einmal sah ich einen Jungen aus der Nachbarschaft mit einem Gewehr rumlaufen.
    Den kannte ich gut. Seine Familie war sehr arm, hatte sich mit Kleindiebstähle und Gaunereien übers Wasser gehalten. Nun sollte gerade er für Recht
    und Ordnung sorgen!!???
    Völlig verrückt. Zum Glück hatte er, abgesehen von einigen Drohgebärden niemanden erschossen.

    Eines Tages ging ich zum Markt um Besorgung für Mama zu machen. Auf einmal schrilles Geschrei von einer Frau, der die Handtasche von zwei Jungs auf einem Moped entrissen worden war. Ein Soldat der regulären Armee, also die mit dem beigefarbenen Uniform, hatte das beobachtet. Er zog an den Ladehebel seiner Kalaschnikow, kniete sich auf einem Bein, legte das Gewehr an Schulter und drückte zwei Mal ab. Die zwei Jungs, mittlerweile schon in ziemlich großer Entfernung, krachten und rutschten mit ihrem Moped auf dem Asphalt.
    Beide Tot. Zwei Menschenleben für eine Handtasche mit unbekanntem Inhalt. Solchen Vorfällen sollten es noch sehr oft geben. Jegliche
    Vergehen könnte tödlich enden. Ob das geholfen hatte, die öffentlich Ordnung aufrecht zu erhalten?

    An dieser Stelle möchte ich wieder eine Bemerkung zu den Kriegsfilmen äußern.
    Im Film mähte Rambo reihenweise ratlos hüpfende Vietcongs um und selbst bekam er nur paar Kratzer ab. In der Wirklichkeit sind diese Typen eiskalte Killer. Sie haben ihr ganzes Leben lang nichts anderes getan als zu kämpfen und zu töten. Es hat jetzt nicht mit Patriotismus oder Nationalstolz zu tun wenn ich es so sage sondern nur aus meiner Sicht die Wahrheit.
    Wir haben schon im Kindesalter eingeflösst bekommen, dass ein heldenhafte Tod unser Ahnen stolz macht. Unser Land hatte noch nie Besatzung geduldet. Selbst wir Kinder dürften uns vor keinen Kampf verkneifen. Sonst gelten wir bei den Jungs als Memme und bei den Mädchen wären wir unten durch. Ich hatte noch nie Ärger von Papa bekommen wenn ich nach einem Schlägerei mit blauen Augen nach Hause kam.
    Hätten die Amis sich von vorne rein raus gehalten, wäre der Krieg mit Sicherheit ganz anders verlaufen.

    Saigon befand sich bis dahin schon seit mehreren Wochen im Ausnahmezustand.
    Alle Versorgungslieferung von den Provinzen abgeschnitten. Durch die Ausgangsperre waren alle
    Märkte und Geschäfte geschlossen. Trotzdem haben wir immer noch genug zum essen.


    Damals habe ich mir darüber keine Gedanken gemacht. Heute frage ich mich,
    wie meine Eltern das geschafft hatten, so viele Vorräte anzulegen um eine achtköpfige
    Familie über so eine lange Zeit satt zu kriegen, und das ohne Kühlschrank, da der Strom ständig ausfiel.


    Meine Oma, die bei uns lebte, ist eine Meisterin der Notküche. Irgendwie hatte sie immer super
    lecker gekocht trotz allen widrigen Umständen.


    Einige Leute in der Nachbarschaft, die versucht hatten, zum Hafen zu kommen, kehrten zurück.
    Es gab kein Durchkommen mehr. Papa hatte zu lange gezögert.


    Am 29.April 1975 brach die Hölle los in Saigon. Überall wurde geschossen.
    Auch auf unserer Straße. Papa verriegelte unsere Metalltür und schickte uns Kinder ins Schlafzimmer.


    Auf einmal kloppte es an der Tür. Papa ging raus, kam wieder zurück, holte ein paar seiner Kleidungsstücke
    und ging wieder zur Tür. Ein Soldat der südvietnamesischen Armee bat ihm um Zivilkleidung. Papa fragte ihn
    nach der aktuellen Lage. Danach ging er zu Mama und flüsterte ihr etwas zu.


    Mama holte ihre Nähmaschine raus. Alle Kleidungstücke mit den Farben Blau, Rot und Gelb wurden zerschnitten.
    Daraus nähte Mama die Flaggen der National Befreiungsfront. Rot Blau mit einem gelben Stern in der Mitte. Die Flagge des Feindes.


    Am 30 April 1975 fuhr ein Panzer der Vietcong in den Präsidentenpalast, beendet damit den verhassten Krieg.
    Danach haben doch alle über Jahrzehnte gesehnt. Endlich Frieden.


    Aber was danach kam, ist noch schlimmer als der bes*****’** Krieg.